Veyron Swift und der Orden der Medusa: Serial Teil 3. Tobias Fischer
Zunächst hatte Tom sie für Goldfische gehalten, doch waren sie kleiner und lebten in großen Schwärmen. Je nach Lichteinfall nahm ihr Schuppenkleid eine andere Farbe an, mal leuchtend blau, mal grün, dann wieder gelb, rot, oder leuchtend violett.
»Diese Fische lebten früher in einem See in den Grünen Hügeln. Unsere Vorfahren hatten den See ausgetrocknet und man hielt diese Fischart für ausgestorben. Schließlich wurden sie hier auf Bovidium in einem fast ausgetrockneten Tümpel wiederentdeckt. Mein Großvater ließ sie in großen Becken züchten und dann in allen Teichen hier aussetzen. Sie sind die letzten ihrer Art. Wir nennen sie „Regenbogenwechsler“«, erklärte Iulia, als ihr Toms Staunen auffiel. Er schaute den leuchtenden Schwärmen noch einen Moment zu, anschließend beeilte er sich, um wieder zu Veyron und Toink aufzuschließen.
Zwischen den alten, krummen Pinien wuchsen auf freien Plätzen Mandarinenbäume und Palmen, von Gärtnern stets zurechtgestutzt und im Wuchs unnatürlich symmetrisch gehalten. Der Rasen der Gartenanlage wurde penibel gehegt und jedes fremde Kraut sofort entfernt. Einen gepflegteren Rasen gab es wohl auch in England nicht, da war Tom sicher. Schließlich erreichten sie die Stützarkaden des Palastes, der jetzt hoch über ihnen aufragte.
Über eine gewaltig hohe Außentreppe mussten die Besucher die vierzig Meter bis zum Haupteingang im Norden überwinden. Tom zählte 250 Stufen. Immerhin waren die Architekten von Tirvinius gnädig genug gewesen, alle fünfzig Stufen eine kleine Plattform dazwischen zu schieben, von der aus man über die Steilküste hinaus aufs Meer und die ferne Küste Maresias blicken konnte.
Dort, so erklärte ihm Veyron, stand in der Hafenstadt Sirenum ein großer Leuchtturm. Mit Hilfe von Lichtsignalen wurden Nachrichten aus Gloria Maresia an den Augustus übermittelt und seine Antworten wiederum zurück in die Hauptstadt „gefunkt“. Zwischen Sirenum und Porta Gloria, der nur zehn Kilometer westlich von Gloria Maresia liegende Flottenstützpunkt, standen im Abstand von zwanzig Kilometern sieben weitere Signaltürme, meist auf Hügeln platziert. Obwohl er eine Dreitagesreise entfernt von der Hauptstadt residierte, konnte der Kaiser auf diese Weise unmittelbaren Einfluss auf die Geschehnisse im ganzen Imperium nehmen.
»Tirvinius mag den Trubel der Hauptstadt hinter sich gelassen haben und auf Bovidium die Einsamkeit suchen. Wir sollten uns davon jedoch nicht täuschen lassen. Trotz Consilians Macht und Einfluss, ist und bleibt Tirvinius der Imperator Augustus. Sieh dir nur diesen Palast an. Der wurde nicht gebaut, damit das Ego eines Kaisers darin Platz findet, sondern um Staatsgeschäfte zu betreiben, zu repräsentieren und hochrangigen Besuchern ein adäquates Quartier zu bieten«, erläuterte Veyron.
Als die Prozession beim Haupteingang ankam, der aus einem tempelartigen Vorbau bestand, dessen Dachgebälk auf hellblauen Säulen ruhte, wurden sie von einem Prätorianertribun begrüßt. Der Offizier erklärte ihnen, dass die Unterkünfte für die Familie vorbereitet wären.
»Der Augustus hat für heute Abend ein großes Bankett angeordnet. Aus gegebenem Anlass wünscht er all seine Verwandten bei Tisch, die Damen wie die Herren, ebenso die Besucher aus Fernwelt und Talassair«, sprach der junge Tribun. Mit einer zackigen Drehung auf den Absätzen wandte er sich an Veyron und Tom.
»Euch, Meister Veyron Swift, wünscht der Augustus allerdings sofort zu sehen. Ich habe den Befehl, Euch notfalls mit Gewalt in sein Amtszimmer zu schaffen«, sagte er, die Hand bedeutungsschwer auf dem Knauf seines Schwerts ruhend. Veyron nickte bedächtig.
»Gewalt wird nicht notwendig sein. Euer Gebieter hat meine Absicht, um eine Audienz zu bitten, vorweggenommen. Ich komme gern, vorausgesetzt mein Assistent darf mich begleiten. Anderenfalls wird Euch weder Gewalt noch sonst eine Macht auf dieser Insel nützen«, erwiderte Veyron kalt.
Der junge Tribun wirkte für einen Moment verunsichert. Schließlich erklärte er sich einverstanden. Er bat die beiden ihm zu folgen, während die vielen Sklaven die Mitglieder der kaiserlichen Familie in den Palast führten.
Das Eingangsportal erweiterte sich in einen hallenartigen Durchgang, von verschiedenfarbigen Säulen flankiert, die Decke gewölbt und reich mit Stuck und wertvollem Zierrat dekoriert. Sie führte in einen großen Innenhof, in dessen Zentrum ein großer, runder Brunnen stand. Hinter den gelben, rosaroten und mintgrünen Marmorsäulen dieses Peristyls lagen nach Ost und West zeigend, zwei gewaltige Treppenaufgänge, die in die höheren Etagen des Palastes führten. Alle Wände waren mit aufwendigen Malereien versehen, die Garten- und Badelandschaften zeigten, in denen schöne Frauen und Männer sich die Zeit vertrieben. Die Südwand wurde von einem beeindruckend großen Baum aus marmornen Stuck, Silber und Gold eingenommen, dessen Äste und Zweige in zahlreichen silbernen Früchten endeten, in welche Namen aus goldenen Lettern eingraviert waren.
Bevor Tom sich dieses Kunstwerk genauer ansehen konnte, wurden er und Veyron vom Tribun schon die westliche Treppe hochgeführt.
Der Palast erweiterte sich im Westen in eine dreissig Meter breite Gebäudeausbuchtung, eine Apsis. Im ersten Stock lag das riesige Arbeitszimmer, direkt über der großen Klippenterasse. Drei Meter hohe Arkadenbögen boten einen unvergesslichen Ausblick auf die Weiten des kristallblauen Meers. Seidene Vorhänge bauschten sich im Wind, der über das Meer kam. Der Tribun führte die beiden Besucher in das Zimmer, das ansonsten nur von einem wuchtigen Arbeitstisch aus dunklem Holz bevölkert war. Zudem standen in den Ecken Marmorbüsten Illaurians und natürlich von Tirvinius selbst. Gebieterisch blickten die strengen Gesichter der beiden Augusti auf die Besucher, das steinerne Haar von goldenen Eichenblattkränzen gekrönt.
Veyron sah sich regungslos um, während Tom vor die Arkaden trat und seinen Blick hinaus auf das Meer schweifen ließ. Er hörte tief unten die Wellen rauschen, wie sie gegen die Klippen Bovidiums brandeten, als sehnten sie sich danach, hier herauf zu kommen. Irgendwo in der Ferne kreischten ein paar Möwen, ansonsten war kein anderes Geräusch zu hören, kein Geschrei von Menschen oder Tieren, kein Knarren und Ächzen von Wagengespannen. Hier oben herrschte die perfekte Stille. Soweit das Auge reichte, lag unter ihm das türkisblaue Meer, nirgendwo ein Schiff auf den Wellen. Nach dem Trubel auf den Straßen von Gloria Maresia, war die Abgeschiedenheit Bovidiums die reinste Wohltat.
Tom atmete tief durch, ließ die salzige Meeresluft in seine Lungen strömen.
»Ich genieße diesen Ausblick auch jedes Mal aufs Neue«, ertönte eine dunkle Stimme hinter ihm. Erschrocken wirbelte Tom herum.
Ein alter Mann stand im Eingang, hochgewachsen, mit breiten Schultern und kräftigen Händen, das kahle Haupt lediglich am Hinterkopf von einem Kranz aus schlohweißem Haar umgeben. Die vielen Falten in seinem Gesicht verrieten nicht nur das hohe Alter des Fremden, sondern auch seine grimmige Entschlossenheit.
»Imperator Augustus«, grüßte Veyron und verbeugte sich höflich.
Tom machte es ihm sofort nach. Der Kaiser des Imperium Maresia, mit einer schlichten, weißen Tunika bekleidet, hob in segnender Geste die Hand und trat ein. Die bewaffneten Leibwächter, Tom konnte sie kurz erkennen, blieben draußen. Ohne Zögern, oder seine Gäste eines weiten Blickes zu würdigen, ging Tirvinius zu seinem Schreibtisch und setzte sich in den großen Thron dahinter. Schweigsam musterte er Tom und Veyron.
»Meister Veyron Swift und sein jugendlicher Gehilfe, Tom Packard. Ihr sollt wissen, dass mich der Großmeister der Simanui, Taracil, vor Euch gewarnt hat. Ihr verursacht nichts anderes als Ärger, so der Großmeister. Doch auf das Wort eines Simanui gebe ich schon lange nichts mehr, darum bat ich Consilian um einige ergänzende Informationen. Mein Prokurator ist für gewöhnlich sehr versiert, alle Dinge Fernwelt betreffend. Er lobt Euren scharfen Verstand und Eure Beobachtungsgabe. Lasst also hören, was Euch hier, während Eurer kurzen Anwesenheit, aufgefallen ist«, befahl der Augustus. Die aufrechte Haltung, die zu Schlitzen verengten Augen und die tief nach unten gezogenen Mundwinkel verliehen Tirvinius das Aussehen eines alten Generals, der es kaum erwarten konnte, wieder in die Schlacht zu ziehen. Versagen oder Verweigerung würde er nicht akzeptieren.
Veyron nahm diese Herausforderung natürlich sofort an.
»Euer Arbeitszimmer ist sehr sauber und schlicht, ganz Eurem Wesen entsprechend. Lange Jahre habt Ihr als Kommandeur der Legionen gedient, als Feldherr in fremden Ländern und in zahlreichen Kriegen. Ihr verzichtet auf Sänftenträger und betreibt