Zwerge der Meere. Michael Schenk
war Varnum ebenfalls Schürftaucher geworden.
Er drehte sich leicht um die Achse und blickte nach oben. In dem kristallklaren Wasser sah er die Segmente der Stadt über sich und die Säcke der Treibanker, die sie in Position hielten.
Der Clan der Eldont´runod war relativ klein und zählte nur wenige tausend Häupter. Varnum wusste, dass es eine ganze Reihe sehr viel größerer Clans gab. Alle zehn Jahre trafen die Zwerge der Meere sich an einem zuvor vereinbarten Punkt irgendeines Meeres und dann war das Wasser von den schwimmenden Städten bedeckt. Man handelte miteinander und tauschte Erfahrungen und Geschichten aus. Die jungen Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter wechselten dann oft den Clan, damit das Blut der Städte frisch blieb und vielfältig war. Varnum hoffte, er werde die Einwilligung zur Heirat mit Besana erhalten, bevor die nächste Zusammenkunft in zwei Jahren stattfand. In den anderen schwimmenden Städten würde man sich um die hübsche junge Frau reißen. Wenn Varnum ihr Herz bis dahin nicht erobert hatte, konnte es gut sein, dass sie in eine andere Stadt wechselte und ein anderer Mann sie in sein Heim führte.
Jeder Zwergenclan lebte in seiner eigenen Stadt, wie es auch die Clans an Land taten. Aber im Gegensatz zu den „Landfüßen“, betraten die Zwerge der Meere selten festen Boden. Eigentlich nur, um dort das kostbare Holz zu schlagen und das lebenswichtige Trinkwasser zu holen, wenn sie das Wasser des Meeres nicht nutzen konnten, auf dem ihre Stadt ankerte.
Die schwimmende Stadt bestand aus dutzenden riesiger fünfeckiger Flöße. Sie waren mit Tauen und Ketten miteinander verbunden, die sich im Falle der Gefahr voneinander lösen ließen. Bequeme Stege führten von einem Floß zum nächsten und alles war, durch den Wellengang, in einer stetigen Bewegung. Das Auf und Ab waren die Zwerge der Meere gewöhnt, Landfüßen hingegen bekam es nur selten und ihre Besuche waren meist nur kurz. Die Flöße bewegten sich beim Schwimmen stärker, als der Rumpf eines Schiffes. Als Varnum zum ersten Mal an Land gewesen war, hatte er die stetigen Bewegungen des Meeres unter seinen Füßen vermisst und war wie ein Betrunkener getorkelt und sogar gestürzt. Keiner hatte deswegen gelacht. Den Landfüßen erging es umgekehrt nicht viel besser, wenn sie erstmals auf See waren.
Auf den Flößen standen die Gebäude der Stadt und da die Flöße riesig waren, konnte man erstaunlich große und robuste Häuser errichten. Das mussten sie auch sein, um schwerem Wetter und Stürmen zu trotzen. Jedes Floß hatte einen Mast, an dem sich notfalls ein Segel setzen ließ, aber meist wurden sie geschleppt, wenn die Stadt ihren Ankerplatz wechselte. Dann glitt die Stadt, unter der Kraft zahlloser Ruder und ziehender Rammboote, behäbig über die See. Die inneren Flöße waren dem gesellschaftlichen Leben und der Unterkunft der Zwerge gewidmet. Dort schliefen die verheirateten Paare und die unverheirateten Frauen. Dort gab es Wohnhäuser und Schänken, Läden und das Haus des Ältestenrats.
Alle unverheirateten Zwerge männlichen Geschlechts hatten ihr Heim im äußeren Ring der Stadt. So waren sie schnell auf Posten, wenn Gefahr drohte. Hier lagen auch die Küchen und Werkstätten des Clans, in denen offene Feuerstellen unterhalten werden mussten. Kein Feuer durfte auf den inneren Flößen brennen, wo es außer Kontrolle geraten und verheerende Wirkung haben mochte. Die Flöße der Stadt waren, in des Wortes wahrstem Sinn, die Lebensgrundlage des Clans. Auch wenn man von Wasser umgeben war, so konnte ein unkontrollierbarer Brand wichtige Flöße vernichten, bevor man die Stadt auflösen konnte. So richteten die Wächter der Nacht ihr Augenmerk besonders auf die wenigen Lampen der nächtlichen Beleuchtung.
An den äußeren Flößen lagen die Tauchplattformen, die Anlegestellen der Boote und Schiffe und die Lager mit den Handelswaren.
Tag und Nacht waren Boote unterwegs, um nach Gefahr und Fisch zu spähen. Manche Fischarten gingen tagsüber ins Netz, andere kamen erst in der Nacht an die Oberfläche. Den Zwergen war es gleich, wann der Fisch gefangen wurde, der ihre Mägen füllte.
Neben Fisch gehörten Getreide und Fleisch zu ihren Hauptnahrungsmitteln. Einige der Flöße waren dafür eingerichtet, auf ihnen Getreide zu ziehen und kleines Nutzvieh zu halten. Selbst Obst gedieh unter der sorgsamen Obhut der Frauen, aber es war nicht viel und seine Pflege war schwierig. Vor allem an der empfindlichen Gelbfrucht konnte rasch Mangel entstehen. Der Saft der Gelbfrucht schmeckte bitter und sauer zugleich und keiner hätte ihn ohne Notwendigkeit getrunken. Aber dieser Saft versorgte den Körper der Zwerge mit wichtigen Substanzen. Wenn er länger als drei Monate fehlte, begannen sich die Zähne zu lockern und fielen aus und wenn das geschah, war der Leib schon stark geschädigt. Der Betroffene konnte oft keine Nahrung mehr bei sich behalten und war damit dem Tod geweiht. Die Gelbfrucht gehörte also zu jenen Gütern, welche die Zwerge der Meere bevorzugt einhandelten. Das zweitwichtigste Gut war Gummi, gefolgt von Holz, das man jedoch notfalls selbst auf einer Insel schlagen konnte.
So bedeutsam die Gelbfrucht für die Gesundheit der Clans war, so kostbar war Gummi für ihre Arbeit. Es war teuer und selten und man sparte es ein, wo immer es ging. Daher bestanden die Dichtungen der Tauchanzüge aus Leder und nicht jenem viel flexibleren Material, das man für die Luftschläuche, Ventile und Pumpen brauchte.
Ein Luftschlauch musste sehr lang sein. Meist maß er knapp zweihundert Meter und war dick genug, damit die Pumpen Luft hindurch pressen konnten. Dabei musste er stabil und zugleich flexibel sein. In den Werkstätten des Clans wurde ein hervorragender Draht hergestellt, der in enge Spiralen gedreht wurde. Über diese Drahtspirale zog man eine Haut aus Gummi. Darüber kam eine Schutzschicht aus Stoff. Es waren die sensibleren Hände der Frauen, die das Wunder vollbrachten und einen solchen Atemschlauch herstellten. Die Schlauchmacherinnen genossen daher bei Schürfern und Pumpern hohes Ansehen. Alle Pflege des Materials konnte aber nicht verhindern, dass die Schläuche im Lauf der Zeit porös wurden.
Während Varnum dem Meeresboden entgegen sank, musterte er daher aufmerksam seinen Schlauch, ob irgendwo verräterische Luftblasen aufstiegen. Noch war Zeit zur Umkehr. War man unten auf dem Grund, konnte sich jeder Zeitverlust als tödlich erweisen.
In diesen Minuten des Abstiegs hatte keiner der Schürftaucher einen Blick für das Umfeld. Seine Aufmerksamkeit galt nun ganz der Funktionstüchtigkeit seines Tauchanzuges und des Schlauches.
Keiner von ihnen achtete, von einem flüchtigen Blick abgesehen, auf die Schönheit, die ihn umgab. Die Reflexe des Sonnenlichtes spiegelten sich an der Oberfläche. Im kristallklaren Wasser bewegten sich Fische in erstaunlicher Vielfalt. Manche davon waren prächtig in ihrer Farbenvielfalt und Form, andere wirkten farblos und unscheinbar, suchten Schutz in der Größe ihres Schwarms. Hier gab es Jäger und Gejagte, aber die meisten Fische wurden einem Zwerg nicht gefährlich. Doch es gab auch die großen Dornfische und andere Räuber, die gelegentlich die Nähe der großen Schwärme suchten, um ihre Beute zu schlagen. Sie machten keinen Unterschied, wessen Fleisch sie kosteten. Diese Jäger waren der Grund, warum die Abfälle des Clans weitab der Stadt von Booten ins Wasser geworfen wurden. Dort sammelten sich dann die ewig hungrigen Schwärme und diese wurden von den Fischern der Zwerge und den Raubfischen gleichermaßen gejagt.
Unterhalb der schwimmenden Stadt befanden sich über den Schürftauchern noch andere Zwerge im Wasser. Axtschläger nannte man die Kämpfer der Zwergenclans, auch wenn sie keinesfalls nur mit der Axt kämpften. Sie waren ausgewählte Krieger, für den Kampf trainiert und beherrschten jede Waffe, über die das Zwergenvolk verfügte. Die sich nun als Wachen im Wasser befanden, trugen keine Tauchrüstungen, die ihre Beweglichkeit gefährlich eingeschränkt hätten und sie konnten ihre Luft gut einteilen. Sie hielten lange Speere in ihren Händen bereit. Ein schwacher Schutz, wenn die Räuber der Tiefe ernstlich angriffen.
Varnum spürte, wie der Wasserdruck anstieg. Wenigstens würden sie in einer bequemen Tiefe arbeiten, von der aus sie leicht und ohne Zwischenpausen an die Oberfläche aufsteigen konnten. Er blickte nach unten und sah den Meeresboden näher kommen.
Auch hier herrschte die Vielfalt der Farben. Riesige Korallenbänke erstreckten sich vor Varnums Augen, teilweise mit anderen Pflanzen bedeckt, zwischen denen Fische umher huschten oder sich verbargen. Dazwischen waren einige Stellen mit Sand zu sehen. Inmitten dieser Farbenpracht war eine rechteckige Fläche zu erkennen. Hier war der Grund aufgewühlt worden, zerhackt von Meißeln und Beilen.
So reich die Meere an Pflanzen und Tieren waren, so reich waren sie auch an anderen Rohstoffen. Die erfahrenen Zwerge hatten