Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
dem Unfallverursacher, hart bedrängt wurde. Dies wissen wir durch die Zeugenaussage eines entgegenkommenden Fahrzeugs, dessen Fahrer später wieder in Richtung Steinach zurückfuhr. Der Unfallverursacher muss dann bei weiteren Überholversuchen Ihre Frau auf der Fahrerseite gerammt haben. Vermutlich hat sie dadurch die Gewalt über das Fahrzeug verloren und ist auf der regennassen Fahrbahn ins Schleudern gekommen. Nachdem sie mit dem Fahrzeugheck einen Baum berührt hatte, ist sie aufgrund der hohen Geschwindigkeit, die sie wahrscheinlich durch den Unfallverursacher hatte, auf der gegenüberliegenden Seite in den Straßengraben gefahren. Dort hat sich das Auto dann mehrfach überschlagen. Zuerst ist es über die Front hinweg aufs Dach geschlagen, und das Dach wurde durch die große Wucht bis auf die Rückenlehnen der Sitze heruntergedrückt. Anschließend hat sich das Auto noch mehrfach seitlich überschlagen, bevor es auf der Fahrerseite liegend, zum Stehen kam. Der Fahrer eines nachkommenden LKW hat noch gesehen, wie sich ein PKW, schnell beschleunigend, von der Unfallstelle entfernt hat. Nach der Fahrzeugbeschreibung war dies das gleiche Fahrzeug, das uns auch der andere Zeuge beschrieben hat. Fahrer und Beifahrer des LKW haben dann sofort die Rettungskräfte informiert und versucht, selbst Hilfe zu leisten. Leider waren aber alle so im Fahrzeug eingeklemmt, dass sie nur die Möglichkeit hatten Ihre Frau durch die herausgebrochene Frontscheibe notdürftig zu versorgen. Als die Rettungskräfte eintrafen und die Feuerwehr das Dach entfernt hatte, konnten Ihre Kinder leider nur noch tot geborgen werden. Vermutlich hatten sie schon den ersten Überschlag nicht überlebt. Ihre Frau war besinnungslos und hatte in der Zwischenzeit so viel Blut verloren, dass der Notarzt sich wunderte, dass sie überhaupt noch am Leben war. Wahrscheinlich konnte sie nur durch die Notversorgung der beiden LKW-Fahrer so lange am Leben erhalten werden.‹
Er atmete tief durch und beendete seine Ausführungen mit den Worten: ›Das ist erst einmal alles, was ich Ihnen zum Unfallhergang mitteilen kann. Ich werde Sie auf jeden Fall über den Stand der weiteren Ermittlungen auf dem Laufenden halten.‹
Der Hauptwachtmeister hatte mich die ganze Zeit fixiert und schnell hintereinanderweg gesprochen und war nun sichtlich froh, dass er diese schwierige Aufgabe hinter sich gebracht hatte. Er wartete auf eine Reaktion von mir, doch ich musste das Gehörte erst einmal verarbeiten. In meinem Kopf hatten sich während der Ausführungen des Polizisten Bilder gebildet, mit denen ich das Geschehen nachzuvollziehen suchte. Mir stockte der Atem und es wurde mir schlecht, als ich mir meine blutenden, im Fahrzeugwrack eingeklemmten Familienangehörigen vorstellte. Mein Anblick muss beängstigend gewesen sein, denn der Polizist hatte schon einen fragenden und um Hilfe flehenden Blick auf den Arzt geworfen, als dieser auch schon aufstand, zu mir trat und mich fragte: ›Ist Ihnen schlecht? Soll ich das Fenster öffnen?‹
›Ja, ich glaube, das wäre nicht schlecht‹, keuchte ich.
Der Arzt trat, ohne mich aus den Augen zu lassen, ans Fenster, nahm die Pflanzen weg und öffnete es weit. Zitternd und taumelnd stand ich auf und trat, gestützt vom Polizisten, ans Fenster. Die frische Luft tat gut und langsam konnte ich wieder klar sehen. Doch in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Alles war so düster, so trostlos. Doch das Wetter und die Natur schienen dem allen Hohn zu spotten. Die Sonne war hinter den Gewitterwolken hervorgekommen und begann, die Nässe vom Boden aufzusaugen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, die Luft war klar und sauber, alles sah so frisch, so erholt aus. All dies passte überhaupt nicht zu meiner derzeitigen Verfassung. Langsam begann ich meine Gedanken zu ordnen.
›Danke, es geht schon wieder. Das ist bloß sehr viel auf einmal. Ich muss das erst einmal verarbeiten.‹
Der Arzt nickte.
›Das kann ich verstehen. Wenn Sie möchten, können Sie gerne eine Weile hier in diesem Büro bleiben. Hier stört Sie keiner und Sie können erst einmal zur Ruhe kommen.‹ Er schaute mich fragend an, und als ich nicht reagierte, gab er dem Polizeibeamten mit den Augen einen Wink und sie verließen gemeinsam den Raum.
Ich setzte mich und holte tief Luft. Dann versuchte ich das Gehörte zu verarbeiten. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nun allein war. Diese Erkenntnis erschlug mich fast, denn ich hatte nun niemanden mehr. Meine Eltern lebten nicht mehr, meine Schwester war weit weggezogen und nun waren meine einzigen nahen Verwandten mit einem Schlag nicht mehr da. Plötzlich spürte ich, dass die Stille und Einsamkeit in diesem kleinen Raum mich erdrückte. Schwer atmend und am ganzen Körper zitternd stand ich auf. Ich verließ das Büro und begab mich in die Notaufnahme. Die an diesem Ort herrschende Betriebsamkeit tat mir gut und ich schaute mich nach dem Arzt und dem Polizisten um. Schließlich fand ich sie in ein Gespräch vertieft, Zigarette rauchend vor der Tür stehen.
›Tut mir leid, aber allein in diesem kleinen Büro, das ist jetzt doch nicht das Richtige für mich. Als ich kam, habe ich vorn beim Haupteingang eine Cafeteria gesehen, und ich denke bei einer Tasse Kaffee kann ich meine Gedanken jetzt besser ordnen.‹
Anscheinend hatten sich die beiden gerade über mich unterhalten und der Arzt schien nun sichtlich erleichtert zu sein, dass ich diese Entscheidung getroffen hatte. Er nickte zustimmend und bat mich nur, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen, um einige Formalitäten zu erledigen. Auch auf dem Polizeirevier sollte ich mich zu diesem Zweck noch einmal melden.
Ich nickte und begab mich in die Cafeteria. Dort musste ich mich zwingen, nicht meiner Verzweiflung nachzugeben, sondern über die weiteren Schritte nachzudenken. Nach einer Weile gelang mir das auch und ich fand zu der rationalen Handlungsweise zurück, für die ich bei meinen Geschäftspartnern bekannt war. Ich zog das Notizbuch, das ich immer bei mir hatte, hervor und begann mir Notizen über die nächsten Schritte zu machen.
Der Rest dieses Tages war wie ein Lauf durch dicken Nebel. Ich funktionierte rationell und von außen drang nichts richtig bis zu mir vor.
Nachdem ich Schritt für Schritt abgearbeitet hatte, was ich zu diesem Zeitpunkt für notwendig erachtete, fuhr ich nach Hause und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Nun begann ich zu bereuen, dass ich mir so wenig Zeit für meine Familie genommen hatte. Bilder aus der Vergangenheit stürmten auf mich ein und ich sah so vieles, was ich hätte anders oder besser machen können.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Meine Schwester erkundigte sich nach meinem Befinden und bot mir an, mich in den kommenden Tagen zu unterstützen. Ich war dankbar für dieses Angebot, denn die Einsamkeit in diesem Haus war belastend. Nachdem ich einige Bier getrunken hatte, kam ich soweit zur Ruhe, dass ich