Mord um Drei. Bärbel Junker
Wunde reißt. Ein dicker Blutstrahl schießt dicht an dem Jungen vorbei, während sein Vater zusammenbricht.
Das Messer hat die Oberschenkelarterie getroffen.
„Hilf mir“, stöhnt der Schwerverletzte, dessen Blut fontänenartig aus der Wunde spritzt. Es ist verhängnisvoll für ihn, dass das Messer nicht mehr steckt, sondern aus der Wunde herausgezogen wurde.
Der Junge starrt ihn an, starrt auf die Blutlache, die den Teppich tränkt. Er lässt das Messer fallen, dreht sich um und läuft davon.
Der Mann hört ihn noch auf der Treppe und auch noch das Schließen der Zimmertür.
Und dann wird es dunkel um ihn herum und er hört nichts mehr.
Niemals mehr!
Der Junge aber schlüpft oben in seinem Zimmer unter seine Decke und nimmt Dogo in den Arm. Eng an seinen besten Freund gekuschelt schläft er ruhig ein.
UNGEBETENER BESUCH
Beatrice von Arlsberg sank erleichtert in einen Sessel. Die Ruhe hier tat ihr gut. Es war nicht leicht gewesen, für einen Augenblick der Feier zu entkommen. Aber hier, in ihrem eleganten Arbeitszimmer, konnte sie für einen Moment entspannen ohne gestört zu werden.
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die leichte Brise, die durch die offenstehende Terrassentür hereinströmte.
Einmal jährlich, immer zum ersten Mai, lud sie ihre Freunde und Geschäftspartner zu einer Festlichkeit ein, die stets sehr viel Anklang bei den geladenen Gästen fand. Denn es war eine gute Gelegenheit, sich ungezwungen über geschäftliche Interessen auszutauschen und neue Kontakte zu knüpfen ohne dabei das Feiern und das Amüsieren zu vergessen.
Beatrice von Arlsberg war eine gepflegte, noch immer sehr schöne Frau mit ihren neunundfünfzig Jahren. Sie war hochgewachsen und sehr schlank. Ihr blondes, schulterlanges Haar trug sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Ihr leicht gebräuntes, schmales Gesicht war faltenlos und dezent geschminkt.
Das schwarze, knöchellange Abendkleid zeichnete weich ihren grazilen Körper nach. Ein schwarzer, goldbestickter Seidenschal schützte ihren schlanken Hals vor der nächtlichen Kühle. Ihre schwarzen Pumps lagen vor ihr auf dem Boden, sie hatte sie von ihren schmalen Füßen gestreift.
Außer einer kostbaren Rolex Armbanduhr zierte sie eine perfekt aufeinander abgestimmte Schmuckgarnitur aus Brillantohrsteckern, Kette und breitem Armband. Alles vom Feinsten, jedoch nicht zu überladen.
Beatrice genoss die kurze Zeit der Entspannung, die ihr nicht allzu oft vergönnt war, denn sie hatte nach dem Tod ihres Mannes die Leitung des von ihm gegründeten Immobilienunternehmens übernommen und mit viel Erfolg weiter ausgebaut. Allerdings spannte sie dieser Erfolg auch fest in das Firmengefüge ein, denn ihre Beziehungen waren unverzichtbar für das Gedeihen des Unternehmens.
Jetzt, wo ihre beiden Kinder ihr zur Seite standen, würde sie ja vielleicht etwas mehr Zeit für ihre persönlichen Bedürfnisse finden, hoffte sie.
Sie hatte im Leben viel erreicht, war vermögend, äußerst erfolgreich und mit zwei gut geratenen Kindern gesegnet. Ja, sie konnte wahrlich glücklich und zufrieden sein, war es bis vor nicht allzu langer Zeit auch gewesen.
Doch dann hatten diese Anrufe begonnen!
Hatten sie an ihre Vergangenheit erinnert, an eine Schuld, die sie in den hintersten Winkel ihrer Erinnerungen verbannt hatte.
Nein, sie bereute nichts!
Jeder musste zuerst einmal an sich selber denken, sollte versuchen, sich seine Träume zu erfüllen, war ihre Devise. Das mochte egoistisch sein, doch sie hatte es getan.
Wer sollte ihr das verdenken?
Fast jeder lud in seinem Leben irgendwann Schuld auf sich, man musste nur lernen, sie zu akzeptieren, sich nicht mit Schuldgefühlen zu belasten.
Ihr waren solche Reuegefühle fremd.
Sie war mit sich im Reinen, bereute nichts, stand auch heute noch zu ihren damaligen Entscheidungen.
Aber genug des Rückblicks. Diese unfruchtbaren Gedanken ermüdeten sie. Ihr Kopf sank gegen die Rückenlehne und sie schlief ein.
Und so bemerkte sie auch nicht den ungebetenen Besucher, der geschmeidig und vollkommen lautlos durch die offenstehende Terrassentür eingedrungen war.
Seine Schritte waren unhörbar, wurden gedämpft durch die dicken Orientteppiche, die von Wand zu Wand ausgelegt waren. Nur wenige Schritte entfernt von der Frau im Sessel blieb der Mann stehen und sah sie an.
Sein Gesicht war maskenhaft starr, spiegelte keinerlei Gefühle wieder.
Liebte er? Hasste er? Verlangte es ihn nach Geld?
Was wollte dieser Mann, der regungslos vor der schlafenden Frau stand?
Sein Blick saugte sich fest an ihrem aparten Gesicht, wanderte über den Schmuck und das elegante, aus einem teuren Modesalon stammende Kleid bis hin zu den vor ihr auf dem Teppich liegenden Schuhen.
Sie hat kleine Füße, dachte er.
Rührte ihn das? Nein, das tat es nicht.
Wieso auch? Er hatte sich entschieden.
Er griff in seine Hosentasche und nahm das kleine Lederetui heraus. Er öffnete es vorsichtig. Leise, ganz leise schnappte es auf.
Doch nicht leise genug, denn es drang in den Schlaf der Frau. Etwas war hier, etwas, das nicht hierhergehörte.
Beatrice von Arlsberg schlug die Augen auf.
AHNUNGEN
Isabella von Ayschhofen, Beatrices Tochter, wurde unruhig. Zu lange, bereits seit fast einer Stunde, war ihre Mutter verschwunden, wo sie sich doch nur einen kurzen Moment lang hatte ausruhen wollen.
„Hast du Beatrice gesehen?“, fragte sie ihren Bruder Matthias, der mit einem Glas Sekt in der Hand gerade an ihr vorbeiging. Beide sprachen ihre Mutter stets mit dem Vornamen an, sie hatte es so gewollt. Vielleicht glaubte sie, es würde sie jünger erscheinen lassen. Wer weiß.
„Ich sah sie vorhin in Richtung ihres Arbeitszimmers gehen, wenn ich nicht irre“, erwiderte Isabellas Bruder. „Wahrscheinlich ging ihr der Krach hier auf die Nerven“, fügte er schmunzelnd hinzu.
„Kann schon sein. An und für sich hat sie für derartige Feiern ja nicht allzu viel übrig. Und heute finden die Gäste ja überhaupt kein Ende“, erwiderte seine Schwester.
„Vielleicht sollten wir mal nach ihr sehen“, meinte Matthias. „Ihr kann ja auch schlecht geworden sein.“
„Beatrice? Niemals!“, winkte seine Schwester ab. „So etwas wie das Wort Krankheit, existiert doch für sie überhaupt nicht.“
„Ich sehe trotzdem mal nach. Kommst du mit, Isabella?“
„Natürlich“, erwiderte diese und hakte sich bei ihm ein.
Die Feier war noch voll in Gange. Die beiden Angehörigen der Gastgeberin vermisste man da nicht. Die Gäste hatten mit sich selbst zu tun. Das Buffet war ein Gedicht und zog immer wieder aufs Neue Interessierte an.
Isabella und Matthias schlenderten indessen den Gang entlang, der zum Arbeitszimmer ihrer Mutter führte. Isabella wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen.
„Was soll das denn?“, fragte sie überrascht.
„Beatrice! Beatrice, bist du da drin? Ist alles