Syleria. Melanie Mende
so viel Platz wie möglich zwischen sich und den riesigen Troll zu bringen. Der Karren kam gefährlich ins Schwanken und die Wachen hatten alle Mühe, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Setzt euch sofort wieder hin und beruhigt euch! Sofort!, brüllte Grenn und zielte mit dem Speer auf den Troll.
„Das nicht nett!”, entgegnete der Troll entrüstet. “Musst sagen ‘Bitte’. Du keine Manieren?”, grummelte er, und verschränkte die Arme vor seiner Brust, die man nur als massiv beschreiben konnte.
„Willse dich echt mit nem Troll anlejen?”, murmelte Börk Grenn hinter vorgehaltener Hand zu.
“Im Namen der Stadtwache fordere ich dich auf, dich sofort wieder hinzusetzen!” Grenns Stimme bekam langsam einen leicht hysterischen Unterton. Die anderen Gefangenen grölten bei dem Anblick, wie ein achtzig Zentimeter großer Zwerg und ein einmeterzwanzig großer Grum versuchten, einen fast zwei Meter großen Troll in ihre Gewalt zu bringen. Die beiden Wachen ergriffen jeder einen Arm des Felsbrockens, doch der hob sie mühelos in die Luft und wirbelte sie herum.
„Oh, ‘tschuldigung. Tut Umir leid. Lassen sofort wieder runter.“
Er ließ die beiden wieder auf den Karren fallen. Die rappelten sich auf und zielten verzweifelt mit ihren Speeren auf ihn.
„ERGIB DICH!“, brüllten sie ihn an. Es wirkte, als wollten sie ein Gebirge mit einem Zahnstocher aufspießen.
Fynnick nutzte die Gelegenheit des Tumults um sich aus dem Staub zu machen. Eine kurze Zauberformel später hatte er seine Fesseln gelöst und sich seine Sachen geschnappt. Unbemerkt ließ er sich hinten über vom Wagen fallen, rollte sich rückwärts ab, landete lautlos auf seinen Füßen und setzte sich noch in der selben Bewegung seinen geliebten Hut wieder auf. Ah, ja, das war besser. Niemand bemerkte etwas, als er, mit der für Waldgnome typischen Gewandtheit, im Unterholz am Wegrand verschwand. Erst viel später, wenn sich die Aufregung wieder gelegt, und der Troll sich tausendmal für die an seiner Felsenbrust zerbrochenen Speere entschuldigt hatte, würde einer der beiden Wachen auffallen, dass er fehlte. Währenddessen rannte er durch dichten Nebel, immer tiefer in den Wald hinein, bis er schließlich die Orientierung verlor. Er konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen und hätte nicht einmal sagen können, ob er nicht vielleicht schon seit Stunden im Kreis lief. Dann war es, als durchschreite er eine magische Barriere. Ein leichter Druck, der plötzlich nachgab, ein elektrisches Kribbeln auf der Haut, dann lichtete sich der Nebel unvermittelt. Der Wald hatte sich verändert. Die Bäume, die Pflanzen, selbst die Geräusche. Das hier war nicht mehr der Wald, den er kannte. Er lief noch lange Zeit weiter und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Nichts hier kam ihm auch nur im Entferntesten bekannt vor. Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung wo er hier war. Und selbst wenn er es gewusst hätte, zurück nach Hause konnte er nicht. Dort würde man als erstes nach ihm suchen. Er dachte an Tilly, das bezauberndste Gnommädchen, das er jemals gesehen hatte. Er wünschte, er hätte nicht abgelehnt als sie ihn beim letzten Sonnwendfeuer zum Tanzen aufgefordert hatte. Jetzt würde er wohl nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Müde und frustriert ließ er sich unter den herabhängenden Zweigen einer großen, weißen Weide nieder. Vielleicht konnte er sich eine Weile in diesem merkwürdigen Wald verstecken, bis sich die Lage etwas beruhigt hatte. Er hoffte nur, dass er dann auch wieder einen Weg hinaus finden, und nicht für immer hier herumirren würde. Vielleicht spielten ihm die Dunkelheit und seine Müdigkeit auch einen Streich und er brauchte einfach nur etwas Schlaf. Danach sah alles bestimmt schon ganz anders aus. Erschöpft legte er sich in das Laub unter der Weide. Er bemerkte gerade noch wie sie mitleidig etwas Laub von ihren Ästen schüttelte und ihn damit bedeckte. Ein gegähntes: „Danke schön!“ schaffte er gerade noch bevor er einschlief.
*
Am nächsten Morgen wurde er von einer wispernden Stimme geweckt: „Zauberer, Zauberer, Fynnick, wach auf! Es ist schon später Morgen!“
Verschlafen öffnete er die Augen und sah sich um. „Wie? Wer spricht dort?“
„Na wir!“, kicherte es im Wind.
„Was? Wer ist wir?“ Sofort war er hellwach. Er sprang auf seine Füße und blickte sich suchend um. Hatten die Wachen ihn etwa doch gefunden? „Wo seid ihr? Zeigt euch!“
„Wir sind hier! Und ihr! Und hier auch!“
Die Stimmen schienen von überall zugleich zu kommen, doch er konnte niemanden entdecken.
„Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir? Los! Zeigt euch!“ Fynnick ging in Verteidigungsposition und konnte spüren, wie sich die Magie in ihm anfing zusammenzuballen. Wie Elektrizität durchströmte sie seinen Körper bis in die Fingerspitzen. Funken knisterten auf seiner Haut. Angestrengt versuchte er sie zurückzuhalten. Bloß nicht schon wieder ein Kurzschluss.
„Wir sind hier oben, Fynnick!“
Er sah nach oben und kniff die Augen zusammen. Es dauerte einen Moment, doch dann sah er sie. Fast unsichtbar tanzten sie zwischen den Blättern. Ihre winzigen silbernen Flügel glitzerten wie Tau im Licht und mit ihrer grünen Haut waren sie fast nicht zu sehen. Die Anspannung viel von ihm ab und die Magie entlud sich in den Boden. Fasziniert beobachtete er die kleinen geflügelten Wesen.
„Wer seid ihr und woher kennt ihr meinen Namen?“, rief er zu ihnen hoch. Jetzt kamen sie einer nach dem anderen herabgesaust und umschwirrten ihn.
„Wir sind nur Funkelfeen, und du redest im Schlaf, Zauberer!“
Funkelfeen - Feridae Luminae - er hatte schon mal etwas über sie gelesen, eine Untergattung der Lichtelfen, die in den Wäldern Sylerias lebte, und dort tagsüber die Sterne putzte, wenn die sich zum Schlafen in die Baumkronen legten. Er hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt, nicht so … nervig. Sie zupften und piksten an ihm herum, als wäre einfach alles an ihm unheimlich interessant. Einer wuschelte in seinen Haaren, ein anderer versuchte in eines seiner langen, spitzen Ohren zu krabbeln. Langsam wurde es ihm zu bunt und er versuchte, sie mit den Händen zu verscheuchen. Doch das schien sie nur zu belustigen und sie umflatterten ihn munter weiter.
Da kam plötzlich, wie aus dem Nichts, eine starke Brise auf und die Blätter rauschten im Wind. Die nervigen kleinen Quälgeister sahen alle aufgeregt in die selbe Richtung, ein Loch im Baumstamm der großen weißen Weide, unter der er geschlafen hatte, etwas oberhalb seines Kopfes, und wisperten sich in einer merkwürdigen Sprache etwas zu. Dann stellten sie sich alle neben dem Loch auf und machten etwas, was an eine Verbeugung erinnerte. Er fragte sich, was das alles wohl zu bedeuten hatte, als zwei männliche Feen in winzigen, silbernen Rüstungen und mit winzigen Speeren aus dem Loch hervor flogen und links und rechts davon Stellung bezogen. Ihnen folgte eine zwar kleine, aber dennoch Ehrfurcht einflößende Gestalt, mehr schwebend als fliegend, die sich auf dem Rand des Loches niederließ. Ihre Haut schillerte im Sonnenlicht wie ein Tautropfen. Sie sah etwas anders aus, als die anderen Funkelfeen. Ihre Haut war nicht grün, sondern so hell, dass sie fast weiß wirkte. Sie hatte auch keine Flügel, sondern schien einfach durch die Luft hindurch zu gleiten. Sie war makellos schön und als sie zu sprechen begann, klang es wie der schönste Gesang in seinen Ohren und ihre Stimme hörte sich an, als würde sie von einem Windspiel begleitet: „Man hat mir bereits von dir berichtet, Fremder! Du bist einem Gefangenentransport entflohen, habe ich recht?“
Woher wusste sie das bloß? Fynnick lief bis in seine Ohrspitzen rot an und stammelte als er antwortete: „Nun ja, äh, ja das stimmt, a-aber es ist nicht so wie es aussieht. Es war ein Unfall! Wirklich! Ich wollte niemandem schaden! Nur leider will mir das niemand glauben.“ Das war die Wahrheit und unter ihrem durchdringenden Blick hatte er das Gefühl, gar nicht die Macht zum Lügen zu haben.
„Hm.” Antwortete sie nur und schien ihm bis in die Seele zu blicken.“Was war es denn für ein Unrecht, das du begangen haben sollst?“
Fynnick räusperte sich verlegen, bevor er fortfuhr: „Es war alles meine Schuld. Ich wollte unbedingt an der Aufnahmeprüfung für die MMU, die Magna Meridia University teilnehmen. Deshalb bin ich in die Hauptstadt gereist, um mich einzuschreiben. Als ich dort ankam ging ich sofort zur Mathemagischen Fakultät. Der