Lautlos. Hans J. Muth
sie auf dem Boden aus, durchsuchte den Inhalt. Auch der Wäsche im Kleiderschrank erging es ebenso. Doch was er auch tat, er konnte das Bild nicht finden
Dann erinnerte er sich plötzlich daran, dass sie beide ja ein Geheimfach besaßen. Dass er nicht daran gedacht hatte!
Er und Vera hatten lange überlegt, ob sie sich für ihre Wertgegenstände einen Safe oder einen Tresor zulegen sollten. Doch er hatte seine Frau davon überzeugen können, dass man Dinge anders besser sichern konnte, unauffälliger und dennoch nahezu unauffindbar.
Er hatte den schweren Dielenschrank beiseitegeschoben, drei Dielen des Eichenparketts gelöst und die Isolierung links und rechts des Holzbalkens, auf den die Dielen befestigt waren, entnommen. Der so geschaffene Hohlraum reichte völlig aus, und außerdem konnte Brunner seinen kleinen Tresor jederzeit ihren Bedürfnissen anpassen. Die entnommenen Dielenbretter hatte er zusammengeleimt und sie als ein Stück lose auf dieselbe Stelle zurückgelegt. Den Schrank hatte er wieder an seinen Platz zurückgeschoben. Der Umstand, dass dieser eine Schublade im unteren Bereich aufwies, die sich über seine gesamte Breite erstreckte, verhinderte eine Sicht auf das Geheimversteck, auch dann, wenn man die Schublade entfernte, denn darunter befand sich das Unterteil des Schrankes.
Brunner stürmte in den Flur, schob mit aller Kraft den Schrank beiseite und versuchte, mit den Fingernägeln die Holzdielen zu lösen. Dieses Vorhaben gab er auf, als der Nagel seines rechten Zeigefingers brach und ein scharfer Schmerz seine Hand durchzuckte. Er ignorierte den Schmerz und lief in die Küche, den Zeigefinger im Mund, um den Schmerz zu lindern. Er riss eine Schublade der Küchenzeile auf, entnahm ihr das Messer irgendeines Bestecks und rannte zurück in den Flur.
Kurz darauf hatte er die Dielen gelöst und kramte in dem Inhalt der beiden Balkenkammern darunter.
Endlich hielt er es in der Hand, das Foto, das ihm bestätigte, dass Vera ihn nicht verlassen hatte.
Oh, Vera, Liebes, ich danke dir. Verzeih, dass ich gezweifelt habe.
Brunner drückte das Foto an seine Brust, bis ihm plötzlich klar wurde, was dies bedeutete.
Vera hat die Wohnung nicht freiwillig verlassen. Er hielt das Bild in der Hand. Das genügte ihm, sich darüber sicher zu sein
Man hat sie entführt!
Aber sie lebt! Das spürte er. Das wusste er.
Doch wo war Vera jetzt? Wie konnte er seine Frau finden? Was konnte er für sie tun?
Die Polizei! Dieser Kommissar. Er musste zu ihm. Brunner überlegte kurz. Nein, das würde nichts bringen. Der Kommissar hatte ihm erklärt, was er veranlassen würde. Daran würde sich auch bei seinem Erscheinen nichts ändern. Man war sicher bereits dabei, Vera zu suchen.
Und dennoch, der Kommissar musste wissen, was hier in dieser Wohnung geschehen war. Er musste wissen, dass jemand seine Frau von hier aus entführt hatte. Der Kommissar musste etwas tun. Brunner zückte sein Handy.
Kapitel 13
„Die Radio-Durchsage war eine gute Idee, Chef“, hörte ich die aufgeregte Stimme meines Kollegen Laufenberg am anderen Ende der Leitung. „Ein Mann, offensichtlich der Ehemann der Toten, hat sich daraufhin gemeldet. Er sagt, dass er seine Frau seit drei Tagen nicht mehr gesehen hat. Als er sie in ihrer Wohnung aufsuchen wollte, habe er sie nicht angetroffen. Er mache sich Sorgen.“
Laufenberg schien außer Atem und ich nutzte ich die Zeit, während er Luft nahm, um mir weitere Einzelheiten mitzuteilen. „Sie haben ihm mitgeteilt, dass seine Frau tot ist?“
Ich hörte, wie Laufenberg genervt die Luft ausstieß. „Nein, natürlich nicht, ich meine, am Telefon werde ich ihm eine solche Mitteilung doch nicht machen. Ich habe ihn zur Dienststelle bestellt. Er wird in etwa einer halben Stunde hier sein.“
„Das ist gut, Laufenberg. Ich werde mich beeilen. Lassen Sie den Mann so lange warten, bis ich eingetroffen bin.“
Ich beendete das Gespräch und sah auf die Uhr. Es war fast 17 Uhr. Dann kam mir in den Sinn, was ich Nette versprochen hatte. Heute wollte ich einmal pünktlich sein. Gerade heute, wo mich der Eindruck beschlichen hatte, dass es meiner Lebensgefährtin nicht besonders gut ging. Irgendetwas war da, das sie mir bisher verschwiegen hatte. Heute Abend wäre die Gelegenheit gewesen, mit ihr darüber zu sprechen, wenn mein Gefühl recht behielte.
Ich bestieg den Dienstwagen, verließ das Gelände der Stadtklinik und fuhr in Richtung Stadtmitte, um sogleich von dem Chaos des Feierabendverkehrs eingesogen zu werden. Es war, als habe man es auf mich abgesehen. Die Ampel, vor der ich gerade in der Autoschlange stand, lag so weit von der Straßenbiegung entfernt, dass ich sie nicht einmal erahnen konnte. Wenn es voran ging, dann gerade mal drei bis vier Autolängen weit. Ich überlegte, ob ich nicht von den Sonderrechten der Polizei Gebrauch machen sollte, nahm aber sofort wieder Abstand von diesem Gedanken. Martinshorn und Blaulicht hätten das Chaos nur unnötig verstärkt und so lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und wartete ab. Was sollte ich sonst auch tun?
Ich beschloss zu telefonieren. Nicht mit Laufenberg, das hatte noch Zeit. Er erwartete mich eh erst in einer halben Stunde. Ich wählte die Nummer von Nette.
Es läutete durch. Einmal, zweimal, dreimal. Beim fünften Mal meldete sich der Anrufbeantworter und die liebliche Stimme Nettes gab mir zu verstehen, dass derzeit niemand telefonisch erreichbar sei. „Bitte rufen Sie später wieder an oder hinterlassen Sie nach dem folgenden Ton eine Nachricht ...“
Nette war nicht in ihrer Wohnung! Eigentlich hätte sie darin sein müssen, denn wir waren nach Dienstschluss dort verabredet. Vielleicht war sie zum Einkaufen gegangen, überlegte ich. Ja, so musste es sein. Vielleicht wollte sie uns etwas Leckeres zum Abendessen zubereiten.
Der Abstand zu meinem Vordermann vergrößerte sich. Es ging weiter. Fünf Autos weiter. Dann standen wir wieder. In Warteposition. Ich sah zu dem Fahrzeug neben dem meinen, einem dunklen Audi. Ein Pärchen saß darin, die Frau fuhr. Sie war etwa dreißig. Ihre Finger klopften in irgendeinem Rhythmus auf das Lenkrad. War es die Musik aus dem Autoradio? Oder die Nervosität? Ich tippte auf Letzteres. Ich wurde bestätigt, als sie ihren Kopf zu dem Mann, der nur wenige Jahre älter als sie zu sein schien, drehte und mit missmutigem Gesicht etwas zu ihm sagte. Der Mann nickte nur und legte seinen Kopf gegen die Nackenstütze. Ihn schien das alles kaltzulassen.
Es ging wieder weiter. In einer Entfernung von etwa einhundert Metern wurde jetzt die Ampel sichtbar. Sie hatte Grün. Wir standen. Ganz vorne bewegten sich einige Fahrzeuge. Dann sprang die Ampel auf Rot um. Wir standen noch immer. Doch kurz darauf bewegte sich die Schlange und nacheinander fuhren die Fahrzeuge um wenige Meter nach vorne, einer nach dem anderen und wie so oft stellte ich mir die Frage, warum es nicht so sein konnte, dass alle Fahrzeuge, die Blick zu einer Ampel hatten, zeitgleich und ohne Verzögerung losfuhren. Gleichzeitig sagte mir mein Verstand, dass so etwas nie möglich sein würde.
Ich wählte die Nummer von Laufenberg und teilte ihm mit, dass es später werden würde. Anschließend ergab ich mich in das Schicksal der Autoschlange, die mich irgendwann gänzlich schlucken und dann an der nächsten Ampel wieder ausspeien würde.
Kapitel 14
Der Anruf von Dr. Theodor Habermann kam fünf Autos vor der Ampel.
„Können Sie in der Pathologie vorbeikommen?“, fragte er, kaum dass ich mich mit Namen gemeldet hatte. „Ich muss Ihnen etwas zeigen, etwas, dass ich erst feststellte, nachdem Sie die Pathologie verlassen hatten.“
„An der Frauenleiche?“, fragte ich überflüssigerweise und sagte im Hinblick auf die Autos vor mir: „Kann aber noch etwas dauern, ich stecke gerade im Feierabend-Verkehr.“
„Ich warte auf Sie“, sagte Habermann kurz und beendete das Gespräch. Was hatte er mir Wichtiges mitzuteilen? Die Todesursache stand doch bereits fest. Die Frau war nachweislich erstickt worden, vermutlich mit einer Plastiktüte. Vielleicht hatte es etwas mit ihrem Mund zu tun. Vielleicht hatte er Besonderheiten über die Art des Vernähens ihrer