Lautlos. Hans J. Muth
als habe man eine schalldichte Tür mit einem Ruck geöffnet, drang ihre Stimme wieder in seine Gehirnwindungen und ihre Lautstärke dröhnte in seinen Ohren.
„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nach dem Einkauf sofort nach Hause kommen sollst! Mich lässt man nicht warten! Du bist genau wie dein Vater! Ein Glück, dass er auf und davon ist.“
Ihre schrille Stimme versagte für einen Moment und Speichel tropfte aus einem ihrer Mundwinkel vor ihm auf die Erde.
Er kannte seinen Vater kaum, denn kurz nachdem die kindlichen Erinnerungen Teil seines Lebens geworden waren, wurden diejenigen an seinen Erzeuger wieder ausgelöscht. In seinen Gedanken tauchte sein Vater nur schemenhaft auf und er sah dies in seinen jungen Jahren bereits als einen psychologischen Vorteil, der ihm allzu persönliche Gefühle ersparte. In seinem Herzen aber war sein Vater präsent, der ihm in schweren Zeiten Kraft gab, mit dem er redete, auch wenn er keine Antwort erhielt. Sein imaginärer Vater, von dem er nur eine vage bildhafte Vorstellung hatte, bei dem er dennoch Schutz suchte, wenn er nicht mehr weiterwusste.
Er spürte plötzlich einen brennenden Schmerz auf seiner linken Wange und hätte das Gleichgewicht verloren, wenn in seiner unmittelbaren Nähe nicht der Küchentisch gestanden hätte, an dem er sich im letzten Moment festhalten konnte. Instinktiv griff er sich an die schmerzende Stelle und in seine Augen schossen Tränen.
Seine Mutter lallte irgendetwas Unverständliches, rieb sich ihre Hand und wandte sich von ihm ab. Sie griff nach der rot-gelben Plastiktüte, die ihr Sohn nach dem Nachhausekommen auf einem Stuhl abgelegt hatte, und entnahm ihr eine Flasche mit wässriger Flüssigkeit. Wodka. Das große Wort füllte das Etikett der Flasche fast aus und schien ihr entgegenzurufen: Trink! Trink sofort!
Sie drehte den Schraubverschluss auf und leckte sich über die trockenen Lippen. Als sie die Flasche aufsetzen wollte, sah sie kurz zu ihm hinüber.
„Verschwinde!“ rief sie mit schwankender Stimme. „Mach, dass du fortkommst!“
Der Junge drehte sich langsam um, wobei seine Augen so lange an seine Mutter geheftet blieben, bis die Sperre in seinen Halsmuskeln dies nicht mehr zuließ. Mit gesenktem Kopf verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Während der Alkohol brennend die Kehle seiner Mutter durchfloss, versuchte der Junge hinter der verschlossenen Tür zu weinen. Der Drang nach dieser Erlösung war groß, doch es verließ keine Träne seine blanken Augen. Er hob den Kopf und in seinem Gesicht zeigte sich harte Entschlossenheit, die in keinem Verhältnis zu seinem kindlichen Wesen stand. Er formulierte einen Satz, dessen ersten Teil er in hörbare Worte fasste. Der unverständliche Rest ging in leisem Flüstern unter:
„Wenn ich einmal groß bin ...!“
Kapitel 2
Als Vera das Bewusstsein wiedererlangte, war ihre erste Wahrnehmung eisige Kälte, die ihren Rücken durchflutete und die sich über Ober- und Unterschenkel bis hin zu ihren Fersen ausbreitete. Ihre Augenlider waren schwer und es fehlte ihren zarten Muskeln die Kraft, sie auch nur einen Spalt zu öffnen. Müdigkeit beherrschte ihren Körper und am liebsten hätte sie sich in den angenehmen Schlaf, aus dem sie gerade erwacht war, zurückfallen lassen.
Doch irgendetwas ließ sie dagegen ankämpfen. Es war nicht allein die Kälte, die ihren Körper vibrieren ließ. Es war die Stille, die sie umgab. Als es ihr mit großer Anstrengung gelang, die Augenlider einen Spalt zu öffnen, war es die gleiche Dunkelheit wie vorher, als ihre Augen noch geschlossen gewesen waren. Sie tastete mit den Händen an ihrem Körper entlang, suchte die Ursache der Kälte, die ihren Körper durchströmte.
Ihre Handflächen fühlten blankes, kaltes Metall.
Sie erstarrte.
Ich liege auf einer metallenen Unterlage. Was ist das? Wo bin ich?, schoss es ihr durch den Kopf und Panik breitete sich wie ein elektrischer Stromstoß in ihrem Körper aus. Sie öffnete erneut ihre Augenlider, die sich gegen ihren Willen wieder geschlossen hatten, es änderte nichts. Die Dunkelheit blieb.
Sie drehte den Kopf nach links und war verwundert darüber, dass ihr alleine diese kleine Bewegung große Mühen bereiteten. Dann versuchte sie, auf der rechten Seite etwas zu erkennen, doch wohin sie auch sah, es umgab sie schwarze Dunkelheit.
Ist etwas mit meinen Augen, dachte sie panisch. Kann ich etwa nicht mehr sehen? Ist es Tag oder Nacht? Mein Gott …
Vera tastete mit der Hand nach dem, was sie an Kleidung an ihrem schlanken Körper trug und erschrak abermals. Ihre Hände tasteten von ihrem Hals abwärts über ihre Brust und ihren Bauch bis zu den Oberschenkeln, soweit ihre Arme reichten.
Ein Nachthemd, stellte sie, inzwischen vor Kälte zitternd, fest. Ich trage ein Nachthemd und weiter nichts. Was um Himmels Willen geschieht mit mir?
Veras Mund war trocken und sie hatte einen Geschmack im Mund, den sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte. Sie erinnerte sich. Als man ihr vor einigen Jahren den Blinddarm im städtischen Krankenhaus entfernt hatte und sie aus der Narkose erwacht war, hatte sie den gleichen Geschmack im Mund. Damals rührte er von einer Narkose her. Es war ein süßsaurer Geschmack gewesen, der ihre Geschmacksnerven einige Tage lang begleitet hatte und einherging mit Übelkeit, so dass sie sich mehrfach erbrechen musste.
Heute war ihr nicht schlecht, aber der Geschmack! Es war der gleiche wie damals. Wie nach der OP vor einigen Jahren.
Eine Narkose? Wo befinde ich mich hier? In einem Krankenhaus?
Sie versuchte sich zu erinnern. Ihre Gedanken rasten und machten ihr einen Rückblick auf die vergangenen Stunden unmöglich.
Nein, ich bin nicht krank. Ich hatte auch keinen Unfall. Oder doch?
Es kommt vor, dass man sich nach einem Unfall hinterher nicht mehr an das Geschehene erinnern kann, überlegte sie. Aber sie hatte keine Schmerzen am Körper.
Nein, ich hatte keinen Unfall! Selbst wenn, das hier ist kein Krankenhaus, wiederholte sie ihre Gedanken. In einem Krankenhaus liegt man auf einer warmen Matratze. In einem Krankenhaus ist es hell, man kümmert sich um den Patienten.
Die Unterlage, die ihrem Körper die Wärme entzog, war aus Metall. Aus blankem, kaltem Metall. Dazu die Dunkelheit, die auch dann nicht endete, wenn sie mühsam die Lider einen Spalt öffnete.
„Hilfe!“
Der Schmerz in ihrem Hals erstickte den Schrei im Ansatz. Die Kehle brannte ihr wie Feuer und plötzlich hatte sie den Geschmack von Blut auf der Zunge. Sie schluckte die Flüssigkeit, die sich im Inneren ihres Mundes bildete, und schrie erneut vor Schmerzen auf. Doch es war ein lautloser Schrei, keine Silbe hatte dabei ihren Mund verlassen, der Hauch ihres Atems und ein leises Flüstern waren die einzigen Geräusche, die zu ihren Ohren drangen.
Sie verspürte einen schmerzhaften Reiz im Hals und als sie husten wollte, war es, als stoße ihr jemand ein brennendes Eisen in die Kehle. Und je mehr sie versuchte, sich zu artikulieren, umso schmerzhafter brannte es in ihrem Hals.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass alles, was soeben passierte, ohne einen Laut geschah. Selbst als sie hustete, nahm sie kaum das ihr vertraute Geräusch wahr. Vera formte mit den Lippen einen Satz, trotzdem entsprang kein Wort ihrem Mund, alleine der Schmerz tobte in ihrer Kehle wie glühende Kohle. Sie versuchte sich zu räuspern, doch es verließ nur ein leises Zischen ihre Atemwege, begleitet von dem brennenden Schmerz, der ihre Gegenwart bestimmte.
Ihr Herz schlug so stark und so schnell, dass sie glaubte, es müsse jeden Moment zerspringen. Noch immer konnte sie nicht einordnen, wo sie sich befand, was mit ihr geschehen war. Sie nahm alle Kraft zusammen und versuchte sich aufzurichten. Sie benutzte dabei ihre Ellbogen und schließlich gelang es ihr, sich auf den Unterarmen aufzustützen. Mit letzter Anstrengung wollte sie ihre Beine anziehen, um mit einer Drehung in eine sitzende Position zu gelangen. Doch ihre Beine bewegten sich nur wenige Zentimeter, bevor die Bewegung, begleitet von einem metallischen Geräusch, jäh gebremst wurde. Vera wehrte sich gegen den Widerstand, der ihre Beine beherrschte, doch das Zerren gegen die unbekannte Gewalt, begleitet durch