Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller. Joseph Conrad
aus reiner, uneigennütziger Zuneigung zu seinem Schiff begleitete. Dann brachten sie es vor lauter Müdigkeit oder in einem Vergesslichkeitsanfall irgendwie fertig, sich voneinander zu trennen, und bald darauf knarrten und bogen sich die Planken unseres langen Fallreeps unter dem Gewicht Mr. B...s, der nun endgültig an Bord kam.
Auf der Höhe des Schanzkleides blieb die untersetzte Gestalt gewöhnlich stehen und schwankte ein wenig hin und her.
„Wachmann!“
„Sir.“
Eine Pause.
Ehe er sich an die drei Binnenbordstufen zwischen der Monkeyreling und dem Deck heranmachte, wartete er einen Augenblick ab, in dem er seines Gleichgewichts sicher war; der Wachmann war durch Erfahrung klug geworden und unterließ es, in dieser besonderen Phase der Rückkehr seine Hilfe anzubieten – sie wäre nämlich als Beleidigung aufgefasst worden. Aber ich habe viele Male um sein Genick gezittert. Er war ein schwerer Mann.
Dann ein Anlauf und ein Aufpoltern, und es war geschehen. Er fiel niemals hin, aber er benötigte doch eine runde Minute, um sich nach dem Abstieg wieder zu sammeln.
„Wachmann!“
„Sir.“
„Kapitän an Bord?“
„Ja, Sir.“
Pause.
„Hund an Bord?“
„Ja, Sir.“
Pause.
Unser Hund war ein mageres, unerfreuliches Vieh, eher ein heruntergekommener Wolf als ein Hund, und ich habe nie bemerkt, dass Mr. B... sonst zu irgendeiner anderen Zeit auch nur die geringste Teilnahme für das Tun und Lassen des Tieres gezeigt hätte. Aber diese Frage blieb nie aus.
„Geben Sie mir Ihren Arm, und bringen Sie mich längs.“
Auf dieses Ersuchen war ich immer vorbereitet. Er stützte sich schwer auf mich, bis wir so nahe an die Kabinentür gekommen waren, dass er die Klinke zu fassen kriegen konnte.
„So, das genügt. Jetzt kann ich schon klarkommen.“
Und er kam klar. Er kam damit klar, den Weg in seine Kabine zu finden, die Lampe anzustecken, in die Koje zu klettern – jawohl, und auch wieder aus ihr heraus, wenn ich ihn um halb sechs weckte. Er war der Erste an Deck, er hob seine Tasse Morgenkaffee mit vollkommen ruhiger Hand an die Lippen und stand für seinen Dienst bereit, als hätte er tugendhaft zehn gediegene Stunden lang fest geschlafen, ein besserer Obersteuermann als mancher andere, der nie in seinem Leben Grog geschmeckt hat. Er konnte mit alledem klarkommen, womit er aber niemals klarkommen konnte, das war, im Leben vorwärtszukommen.
Nur einmal geschah es, dass er die Klinke der Kabinentür nicht beim ersten Zugreifen packte. Er wartete ein wenig, versuchte es noch einmal und verfehlte sie wieder. Sein Gewicht lastete immer schwerer auf meinem Arme. Er seufzte auf.
„Verdammte Klinke!“
Er drehte sich um, ohne mich loszulassen, sein Gesicht war vom Vollmond taghell beleuchtet.
„Ich wollte, wir wären draußen auf See“, knurrte er wütend.
„Ja, Sir.“
Ich fühlte, dass es gut und nötig wäre, etwas zu sagen, denn er klammerte sich schwer atmend und gleichsam wie verloren an mich.
„Häfen sind zu nichts gut – Schiffe verrotten, Leute gehe zum Teufel.“
Ich verhielt mich still, und nach einer Weile wiederholte er mit einem Seufzer:
„Ich wollte, wir wären hier raus und auf See.“
„Ich auch, Sir“, wagte ich zu behaupten.
Er hielt sich an meiner Schulter fest und wandte sich mir zu.
„Du! Was macht es dir aus, wo das Schiff ist? Du – trinkst nicht.“
Selbst in dieser Nacht „kam er klar“ und erwischte schließlich die Klinke. Aber er brachte es nicht fertig, die Lampe anzuzünden (ich glaube gar nicht, dass er es überhaupt versuchte), und dennoch war er am nächsten Morgen wie üblich als erster an Deck, stiernackig und kraushaarig stand er da und überwachte mit bitterem, hämischem Ausdruck und unbewegtem Blick das Zutörnen der Leute.
Zehn Jahre darauf traf ich ihn zufällig und unerwartet auf der Straße, als ich eben aus dem Büro meines Agenten heraustrat. Ich hatte ihn mit seinem „Nun komme ich klar“ wohl schwerlich vergessen. Er erkannte mich sofort, erinnerte sich meines Namens und auch, auf welchem Schiffe ich unter seinen Befehlen gedient hatte. Er musterte mich von oben bis unten.
„Was machen Sie hier?“ fragte er.
„Ich kommandiere eine kleine Bark“, sagte ich, „wir laden hier für Mauritius.“ Und dann fügte ich gedankenlos hinzu: „Und was tun Sie, Mr. B... ?“
„Ich“, sagte er und sah mich mit seinem alten bitteren, hämischen Grinsen unnachgiebig an, „ich suche Arbeit.“
Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Sein kohlschwarzes, krauses Haar war eisengrau geworden; er sah so peinlich sauber wie auch sonst immer aus, aber seine Kleidung war entsetzlich abgetragen, und seine blitzblanken Schuhe hatten schiefe Absätze. Er trug es mir jedoch nicht nach, und wir nahmen eine Droschke, um an Bord meines Schiffes zu essen. Er besah es gewissenhaft von oben bis unten, lobte es von Herzen und beglückwünschte mich in aller Aufrichtigkeit zu meinem Kommando. Als ich ihm bei Tisch Wein und Bier anbot, schüttelte er den Kopf, und als ich ihn fragend ansah, sagte er mit gedämpfter Stimme:
„Ich habe das alles aufgegeben.“
Nach Tisch gingen wir wieder an Deck. Es war, als könnte er sich nicht von dem Schiff losreißen. Wir hatten gerade damit zu tun, die untere Takelage zu überholen und zu erneuern, und er hielt sich dazu, verbesserte dies, schlug jenes vor und gab mir auf seine alte Manier gute Ratschläge. Zweimal redete er mich mit „Mein Junge“ an, verbesserte sich aber sofort und sagte „Kapitän“. Ich sollte in Kürze meinen Obersteuermann verlieren (er wollte heiraten), aber ich erwähnte Mr. B... gegenüber nichts von der ganzen Sache. Ich hatte Angst, er würde mich durch irgendeine grausige, lustige Andeutung, die ich keinesfalls hätte umgehen können, bitten, ihm die Stelle zu geben. Ich hatte Angst. Es wäre unmöglich gewesen. Ich hätte Mr. B... keine Befehle geben können, und ich bin überzeugt, dass er sie auch nicht lange von mir entgegengenommen hätte. Damit wäre er nicht klargekommen, obwohl er es fertiggebracht hatte, sich das Trinken abzugewöhnen – zu spät.
Schließlich verabschiedete er sich. Als ich die untersetzte, stiernackige Gestalt die Straße hinauf fortgehen sah, fiel mir mit sinkendem Herzen ein, ob er wohl viel mehr als den Preis für eine Übernachtung in der Tasche hätte. Und es war mir klar, dass er nicht einmal den Kopf wenden würde, wenn ich ihm in diesem Augenblicke nachriefe. Auch er ist nur noch ein Schatten, aber mir ist, als hörte ich es noch, wie er auf dem mondbeschienenen Deck der alten Duke sagte:
„Häfen sind zu nichts gut – Schiffe verrotten, Leute geh’n zum Teufel.“
1879/80 – D „EUROPA“
Dampfer EUROPA
http://www.photoship.co.uk/
– London – Genua – Neapel – Patras – Messina – London – 12.12.1879 bis 30.01.1880
Dampfer EUROPA
http://www.photoship.co.uk/
1880