Homo sapiens movere ~ gezähmt. R. R. Alval
nachdem ich mir die Akten stundenlang angesehen hatte. Vorsorglich hatte ich auf Kaffee und Essen verzichtet, denn ich wusste, welche Bilder mich erwarteten. Auch wenn meine Augen sie sahen, konnte mein Gehirn sie nicht begreifen. Fakt war, dass ich nie zuvor etwas auch nur annähernd Grausameres gesehen hatte. Es gab jedoch einen gravierenden Unterschied zwischen den Bildern auf den ersten zwei Seiten und den darauf folgenden. Die auf den ersten Seiten unterschieden sich kaum voneinander, während die auf den folgenden Seiten bei jeder Akte unterschiedliche Grade der Zerstörung aufwiesen, die unweigerlich zum Tod führten. Warum hatte man die movere erst derart grausam gefoltert – alle mit den gleichen Methoden – um sie dann mit so vielen ungleichen Praktiken zu töten. Wozu diese eigenartigen Experimente und wie lange hatten sie am Leben bleiben müssen, bevor ihnen endlich der Tod gewährt wurde?
Erst bei der ungefähr dreißigsten Akte wurde ich stutzig. Vermutlich, weil mich eine handgeschriebene Randnotiz darauf hinwies: ‚Zielobjekt konnte trotz Einwirkung von Wagner nicht eliminiert werden.’ Irritiert blätterte ich nach vorn. Doch es änderte nichts daran, dass ich die Akte eines Jonas Wagner in der Hand hielt, der ganz offensichtlich nicht das ‚Zielobjekt’ gewesen war. Aber wer dann, und warum stand es in seiner Akte? Beunruhigt begann ich alle Akten nach handschriftlichen Randbemerkungen durchzublättern und siehe da, bei achtzehn wurde ich fündig. Dass es sich jedes Mal um dieselbe Anmerkung handelte, abgesehen vom Namen, war wirklich blöd. Ein kleiner Hinweis wäre sehr hilfreich gewesen.
Das Unterfangen erinnerte mich an ein Puzzlespiel, von dem ich nicht wusste, wie es auszusehen hatte.
Also begann ich, mir selbst Notizen zu schreiben. Jedes Fitzelchen war mir willkommen. Als erstes schrieb ich mir sorgfältig die Namen jeder einzelnen Akte auf und versah die mit Sternchen, die über eine dieser seltsamen Randnotizen verfügte. Außerdem sah ich mir das offizielle Sterbedatum an und die Daten der einzelnen Bilder, die bei jeder Akte abwichen. Und schon wieder ergab sich ein kleines Puzzleteil, weil ich erst jetzt bemerkte, dass es sich auf den Fotos keineswegs um ein und dieselbe Person handeln konnte. Die Datierungen lagen zu weit auseinander. Mir fiel jedoch auf, dass zwischen dem Sterbedatum des movere und dem ersten Bild eines Toten etwa vier Monate lagen.
Mein Kopf ratterte auf Hochtouren, aber noch sah ich keine Lösung. Die Lippen kräuselnd und schnaubend, stand ich auf und stapfte leise vor mich hin grummelnd in die Küche. Man konnte zwar nicht behaupten, dass ich mich an die Bilder gewohnt hätte, aber mein Hunger überwog sämtliche Einwände.
Außerdem ließ es sich mit vollem Magen besser denken.
Zumindest was mich betraf. Obwohl mich eine heftige, innere Unruhe befallen hatte, ließ ich mir Zeit. Zuerst setzte ich den Kaffee an, dann entschied ich mich, schnell zum Bäcker zu hüpfen und mir ein Stück Kuchen zu kaufen. Als ich wieder daheim war, war der Kaffee fertig und dampfte wenig später einladend und verführerisch duftend in meiner grünen Lieblingstasse. Statt zurück in die Wohnstube zu gehen, stellte ich per Sprachbefehl das Radio an, setzte mich samt Kaffee und Kuchen an den Küchentisch und genoss diese wohlverdiente, ablenkende Pause. Nachdem der Kuchen verputzt war, schloss ich die Augen, lauschte den Klängen der Musik, nippte hin und wieder an meinem Kaffee und schaltete mein Denken völlig ab. So konnte ich am besten entspannen und wäre später umso besser in der Lage, die Zusammenhänge dieses seltsamen Puzzles zu erkennen und der Lösung auf die Spur zu kommen. Vor meinen Augen tanzten warme, bunte Farben, die mich lächeln ließen. Der Duft des Kaffees erinnerte mich an Nachmittage bei meinen Großeltern, die ich über alles geliebt hatte. Die Musik, die gerade im Radio lief, unterstrich die leicht nostalgische Atmosphäre.
Doch als ich die Augen öffnete, saß ich nach wie vor in meiner Küche, die mir jetzt merkwürdig kühl und farblos vorkam.
Seufzend trank ich die Tasse leer, füllte sie noch einmal nach, räumte den Teller in den Geschirrspüler und dümpelte mit einem leichten Grinsen zurück in meine Wohnstube
In der mich sofort die eigenartige Unruhe überfiel, dass ich der Lösung des Rätsels dicht auf den Fersen war, mir bisher nur ein Detail entgangen sein musste. Wieder und wieder blätterte ich die Unterlagen durch, verteilte sie nach Sterbedaten geordnet auf dem Fußboden und versuchte so, Gemeinsamkeiten und Unterschiede schneller zu erkennen.
Doch erst nach zwei Stunden traf mich die Erkenntnis wie ein Blitzeinschlag. Die ganze Zeit hatte ich mich erst an den Fotos festgebissen, bis mir klar war, dass ich auf die Fotos der Folgeseite besonderen Wert legen musste. Die Daten hatten mich irritiert und die verschiedenen Umstände des Totes. Und demzufolge auch die Tatsache, dass es sich dabei weder um den in der Akte benannten movere handelte noch um ein und denselben Toten. Freilich, auf den ersten zwei Seiten mussten definitiv Bilder des movere zu sehen sein. Unterschiedliche Stadien einer Folter, die mir absolut unmenschlich vorkam. Was immer man damit bezweckte, es führte dazu, dass die movere töteten. Wer ihnen auch immer den Befehl erteilte, wen auch immer zu töten, sie führten ihn aus. Bis auf die eine Zielperson, bei der es sich möglicherweise immer um dieselbe handelte, versagten sie nie.
Hatte man sie zu Killern ohne Gewissen umfunktioniert?
Die Vermutung, dass man ihnen eine Gehirnwäsche unterzogen hatte, lag sehr nahe, auch wenn ich sie nicht beweisen konnte. Sprachen möglicherweise die ersten Bilder dafür oder interpretierte ich zu viel in diese grauenvollen Zeugen eines Machtkampfes hinein? Die farblich viel zu originalgetreuen Fotos waren stumme Beweise, doch ich konnte die Männer und Frauen verzweifelt schreien hören. Ihre Gesichter waren ein furchtbares Zeugnis ihrer Qualen. Hatte man sie gebrochen, um sie gefügig zu machen? Besaßen sie noch ein Gewissen oder waren sie zu hirnlosen Marionetten und skrupellosen Auftragsmördern umfunktioniert? Welche Option auch die richtige war, sie waren beide falsch.
Meine Augen blinzelten. Vor lauter Entsetzen zitterte ich am ganzen Körper.
Was sollte ich jetzt tun? Alisa informieren? So gut kannte ich sie nicht. Was, wenn sie die Neuigkeiten nicht verkraftete? Vielleicht wäre es besser, erstmal ihre Freundin Briony zu fragen, was zu tun war. Und da die zu einem Vampir gehörte, konnte ich darauf vertrauen, dass niemand in der Stadtverwaltung Wind davon bekam. Bitte lieber Gott, lass es die richtige Entscheidung sein, ja
Mit zittrigen Beinen stieg ich über die Papierbepflasterung meiner Wohnstube zu meiner Handtasche, in der ich irgendwo die Visitenkarte von Briony verstaut hatte. Mit etwas Glück fände ich sie in meiner Geldbörse. Ich fand sie genau da.
Viel schwieriger war es die Nummer zu wählen, da meine Hände viel zu sehr zitterten. Gespannt lauschte ich auf das Freizeichen und war überrascht, dass ein Mann abnahm. Nachdem ich ihm erklärt hatte, wer ich war und was ich wollte, stellte sich heraus, dass er der Butler der Binghams war – Oh du meine Güte! Ich will auch einen haben! – der mich umgehend zu Briony durchstellte. Mit knappen Worten erzählte ich ihr, dass ich sehr dringend mit ihr sprechen müsse und dass ich nicht wüsste, ob sie die richtige Person sei, aber mir sonst niemandem einfiel. „Es geht möglicherweise um Alisas Vater und ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihr sagen soll. Ich weiß noch nicht mal, ob ich es dir sagen soll, aber ich kann niemanden einweihen, der sofort zur Stadtverwaltung rennen und mich verpetzen könnte. Es ist wirklich… Himmel, ich weiß gar nicht… du könntest auf jeden Fall Ärger bekommen, wenn man mich erwischt. Oder uns beide.“ Ihre Antwort überraschte mich kaum, da ich Briony als einen sehr flexiblen Menschen mit hohem Selbstvertrauen einschätzte. „Ok, Rosalie, das klingt sehr ernst. Gib mir eine viertel Stunde. Deine Adresse hab ich. Bis gleich.“
Sie legte auf, bevor ich einen Rückzug hätte machen können. Sehr schön, jetzt wurde ich erst richtig nervös. Nicht die Art von nervös, wie wenn man ein Date hatte, sondern die Art von: Ach du Scheiße, hoffentlich hast du dir jetzt nicht selbst dein Grab geschaufelt. Ich horchte in mich. Nein, Briony erschien mir vertrauenswürdig. Zwar könnte mein Gefühl mich täuschen, aber bisher hatte mich meine Menschenkenntnis nie im Stich gelassen.
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