Miles Per Minute. Chris Montana

Miles Per Minute - Chris Montana


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Vordersitz. Und um den Film auf den Monitoren, die alle fünf Meter in der Mittelkonsole verbaut waren, zu sehen, brauchst du ein Fernglas. Wenigstens hatte ich einen netten Sitznachbarn, Phil aus London, der für drei Monate eine Rucksack-Tour durch Südamerika machte und mich eigentlich nur danach ausfragte, wie die Frauen in Brasilien so seien und wo man denn die schönsten finden könne. Witzigerweise traf ich ihn zufällig ein paar Wochen später am Strand von Jurere International bei Florianópolis wieder. Genau dort also, wo man wirklich die Schönsten der Schönen trifft. Er hatte also einen sehr guten Riecher bewiesen.

      Nach diversen Flughafenwechseln, Shuttlebusfahrten und Weiterflügen war ich, 24 Stunden nach meiner Abfahrt in Ulm, endlich in Ribeirao Preto angekommen und stieg bei 35° und der Sonne im Zenit aus dem Flieger. Nachdem ich schnell im Hotel eingecheckt hatte, lautete also die Devise: Sofort erst einmal die kurze Hose und Joggingschuhe an und eine Runde laufen, um nach dem langen Sitzen wieder locker zu werden. Dann direkt in den Pool auf dem Hoteldach. Danach ging es mir besser.

      Die Stadt Ribeirao Preto wird den meisten Lesern weniger geläufig sein, ist aber mit ihren 650.000 Einwohnern genauso groß wie Stuttgart – und ganz sicher doppelt so wohlhabend. Als ich nachmittags am Tag nach meiner Ankunft mit den Besitzern des Cinema D, des Clubs, in dem ich am Abend meinen Auftritt hatte, und ein paar ihrer Freunde beim Essen und danach zu Besuch in deren Häusern war, musste ich mich doch angesichts ihrer dicken Autos und Villen wundern. Und es gibt viele solcher reichen Viertel in Ribeirao. Auf mein Nachfragen hin erklärten sie mir den Grund: Die Stadt beziehungsweise der Verwaltungsbezirk ist der weltweit größte Produzent von Zucker aus Zuckerrohr. Viele der heutigen Einwohner haben in den letzten einhundert Jahren von ihren Eltern oder Großeltern sehr viel Grund geerbt, den sie jetzt einfach an große internationale Zuckerhersteller verpachten. Für sehr viel Geld. Viel zu tun haben sie dabei nicht, ab und zu nach dem Rechten sehen und die Buchhaltung kontrollieren. That‘s it. Der Hauptteil der Arbeit wird von den pachtenden Firmen erledigt. Auf meine Frage, was sie denn arbeite, erklärte mir eine junge, sichtbar gut betuchte Frau: „Ich arbeite nichts, ich verpachte nur meine 500 Hektar Grund, das reicht.“ Umso mehr kann sich die Upperclass dann halt um das Dolce Vita kümmern … Wir verbrachten den Nachmittag auf dem großzügigen Landhaus von Marcio, einem der Besitzer des Clubs. Er war mir mit seiner ruhigen und ausgeglichenen Art gleich sehr sympathisch gewesen. Er sah gut aus, vielleicht Mitte 30, wobei er irgendwie alterslos wirkte. Wir waren eine Gruppe von vielleicht 20 Freunden und Bekannten, alle sehr gut gekleidet und sowohl die Männer als auch die Frauen hatten perfekte Körper und waren sehr gepflegt. Zusammen saßen wir am Pool und genossen ein paar Caipirinhas, während seine Angestellten die Tische deckten und Picanha grillten, eine brasilianische Spezialität. Nur das Beste vom Schwanzstück einer Kuh. Dazu gab es Farofa, das ist geröstetes Maniokmehl, in das man das Fleisch tauchen kann. Einfach köstlich. Die Menschen in Brasilien sind sehr gastfreundlich und man wird sofort in die Gemeinschaft integriert. Die Gäste waren alle sehr gebildet und ich erzählte ihnen in meinem etwas rudimentären Portugiesisch, die Zunge vom Caipirinha gelockert, von meinen Reisen um die Welt. Sie waren sehr beeindruckt, was ich eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte, wir lachten viel und tanzten zu einer meiner CDs. Es war ein unglaublicher Tag. Sie versprachen die Party am Abend im Club mit mir fortzusetzen. Langsam ging am Horizont die Sonne unter und der Nachmittag war fast zu schnell vorbei. Ich hatte mich hier sehr wohl gefühlt. Marcio und ich verabschiedeten uns und machten uns Richtung Club auf.

      Wie der Name schon sagt, ist das Cinema D im Stile eines alten Kinos der Fünfzigerjahre gehalten. Die Tickets für die Party waren seit Tagen ausverkauft, die Tische in den VIP-Bereichen komplett reserviert und vor dem Eingang hatte sich schon eine beachtliche Schlange von Gästen gebildet. In dem Moment überkam mich wieder dieses unbeschreibliche Gefühl, diese unbändige Vorfreude, wenn ich merke, dass das heute ein ganz besonderer Abend wird. Ich stand auf der Bühne und hatte diesen Flow. Ich konnte die Leute führen wie ich wollte. In dem Moment fühlst du dich wie ein Marionettenspieler. Tanzt, meine Puppen, tanzt! Alles, was ich an den Reglern tat, wie ich die Lieder neu zusammenmischte und dazu meine E-Percussions spielte, ging ganz intuitiv. Den Kopf völlig ausgeschaltet. Als ich nach zwei Stunden mein Bootleg des Klassikers „Silence“ von Delirium als letzten Titel spielte und die Leute mich mit einem langen Applaus verabschiedeten, war ich einfach nur glücklich und erschöpft. Ich hatte mich völlig verausgabt. Meine neuen „Freunde“ waren auch da und feierten wie nur Brasilianer feiern können. Ich hatte sie in meiner Exstase auf der Bühne gar nicht bemerkt und gesellte mich schnell zu ihnen. Ich war gut drauf und die Nacht noch jung ...

      Tags darauf gingen wir alle zusammen noch Mittagessen, bevor mich Marcio zum kleinen Flughafen von Ribeirao Preto brachte. Ich hatte besonders ihn wirklich ins Herz geschlossen und wir verabschiedeten uns sehr innig.

      Am nationalen Flughafen Sao Paulos angekommen, wurde ich direkt von einem Mitarbeiter von Jovem Pan in Empfang genommen. Der größte Pop-Radiosender Brasiliens hatte auch meinen Auftritt am Vorabend organisiert und wollte mich nun in einem Interview live on Air nehmen. Vor allem mein Hit „Don’t give it up“ und meine Version von „Delirium – Silence“ liefen bei ihnen im Programm rauf und runter und hatten mir eine große Popularität in Südamerika eingebracht. Die Zeit war knapp bemessen, denn nur vier Stunden später würde mein Flieger zurück nach Deutschland abheben. Also schlängelten wir uns durch Sao Paulos wahnsinnigen Feierabendverkehr, um bald im Stadtteil Boa Vista gelegenen Funkhaus anzukommen. Vor Ort wurde ich sehr herzlich vom Moderator begrüßt und nach einer kurzen Erfrischung direkt ins sehr großzügig bemessene Sendestudio geführt. Auch technisch waren sie auf dem neuesten Stand, nur feinste Mikrophone und Monitorboxen waren installiert. Natürlich wurde mir ein Dolmetscher zur Seite gestellt, denn nicht alle Brasilianer sprechen ein gutes Englisch. Das Interview selbst verlief sehr angenehm, wir sprachen über meine aktuelle Musik, meine anstehenden Gigs und wie es am Vortag in Ribeirao Preto gewesen sei. Zwischendurch spielten sie meine Tracks wie „Don’t give it up“ oder „el hacha“ live über Antenne. Das machte Spaß! Leider war die eine Stunde Sendung, die sie über mich machten, viel zu schnell vorbei und schon musste ich weiter, um meinen Rückflug zu erwischen.

      Wie groß die Kontraste in Brasilien sind, wurde mir bei der Fahrt vom Funkhaus zum internationalen Flughafen der Stadt, Guarulhos, wieder klar. Auf der Fahrt durch die südamerikanische Metropole durchquert man dabei im Prinzip ihren kompletten Stadtkern. Arm und Reich leben hier auf engstem Raum beieinander. Sehr wohlhabende Viertel oder Enklaven wie Jardins, die oft von einer hohen Mauer umgeben sind und rund um die Uhr bewacht werden, liegen direkt neben einer der sogenannten und berüchtigten Favelas, den Slums in den großen brasilianischen Städten. Hier prallen große Gegensätze aufeinander. Dicke Limousinen queren die Brücken, unter denen Dutzende von Obdachlosen sich ihre provisorischen Behausungen gebaut haben. Hier liegt der Penner betrunken einfach quer auf der Straße, dort wässert der Gärtner gewissenhaft den Rasen vor den Condominiums der Reichen. Im Fernsehen gibt es spezielle Kanäle, die sich Tag für Tag nur mit den Kämpfen zwischen der Polizei und den Drogenbossen in den Favelas beschäftigen. Man kann sich die, zum Teil verzweifelten, Versuche ansehen, diese Enklaven in der Stadt bis zu den zwei anstehenden Großevents – der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 – von der organisierten Kriminalität zu säubern.

      Für mich gehört dieser Mix der Kulturen und Gesellschaftsschichten irgendwie zu so einer Großstadt dazu. Ich war schon oft in einer der Favelas zu Fuß unterwegs und habe mich nie unsicher gefühlt. Natürlich, wenn du mit einer dicken Rolex an der Hand und einer fetten Brieftasche in der Hose nachts allein in einer dunklen Gasse unterwegs bist, ist das schon gefährlich. Aber das kann es auch in Berlin oder Paris genauso sein. Ungeachtet dessen, ist Sao Paulo eine wahnsinnig vielschichtige und interessante, energiegeladene Stadt. Viel mehr eine Metropole als Rio. Rio ist eher etwas für den typischen Touristen. Meer, Strand, Samba, der Zuckerhut usw., das ist alles unterhaltsam und macht Spaß, aber nicht umsonst wird Sao Paulo als das New York Südamerikas bezeichnet. Hier passieren die wichtigen Dinge, hier treffen sich die Künstler und Macher Brasiliens.

      Am Nachmittag, endlich wieder am internationalen Flughafen angekommen, musste ich feststellen, dass sich die Piloten der Airline im Streik befanden und mein Weiterflug am nächsten Morgen von Madrid nach München gestrichen worden war. KEIN WUNDER, dachte ich bei mir. Glücklicherweise waren sie so kulant und buchten mich auf den Direktflug


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