Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt

Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt


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Haus, neben dem fahrbaren Verkaufsstand der Metzgerei für die Wochenmärkte.

      In der gegenüberliegenden Schaufensterscheibe einer Fahrradhandlung sah er, dass oben das Licht anging. Dann öffnete sie mit dem Türdrücker.

      Er ging die ausgetretenen, hölzernen Treppenstufen hinauf, vorüber an dem vergessenen Plastikspielzeug auf dem Absatz am Fenster, einem bunt leuchtenden Bagger, und sie blickte ihm über das Geländer entgegen.

      In ihren dicht stehenden Augen schien fast so etwas wie Glück aufzublitzen; der Gleichmut, die Trägheit, Faulheit oder Toleranz – oder wie immer man es nennen wollte – waren dem Vergnügen gewichen, das sie offenbar in seiner Gegenwart empfand.

      «Es ist soweit», sagte er. «Morgen früh. Wir nehmen deinen Wagen. Du wartest an der vereinbarten Stelle.»

      «Hat Angelika … zugesagt?»

      «Wir kommen mit zwei Fahrzeugen. Sicherheitshalber», sagte er ausweichend. «Falls etwas schief geht, besteht die Chance, dass wenigstens der andere Wagen durchkommt.»

      Er küsste sie flüchtig auf die Stirn. «Mach dir keine Sorgen.»

      Obwohl er gegen Angelikas Anweisung handelte (ihren wochenlangen Zorn beschwor), hatte er den roten Audi für alle Fälle in einer Seitenstraße hinter dem Postparkplatz abgestellt, nicht weit von der Stelle, wo das Mädchen mit dem Ford auf sie warten würde. Sie konnten sich dann immer noch den Weg bis zu ihm freischießen. Wenn alles gut ging, bewies es den anderen, dass man sie in den Kreis aufnehmen konnte.

      Was Nervenstärke und Reaktionsvermögen anbelangte, traute er ihr sogar mehr zu als Walter – und erst recht Werders. Werders war ein Waschlappen. Seine Vorsicht mochte sich irgendwann auszahlen; vielleicht aber auch nie.

      Gewöhnlich wurde man vom Regen überrascht, wenn man keinen Regenschirm bei sich trug, und es änderte dann nicht das Geringste, dass man ihn monatelang in der Tasche gehabt hatte …

      6

      Einer der beiden Wagen fuhr bis zum Eingang. Es war ein mittelgroßer Opel, beige, Dutzendmodell ohne Extras, der nicht auffiel. Sie hatten sein Kennzeichen durch eine der falschen Nummern ersetzt.

      Der andere Wagen, ein VW-Golf, parkte in entgegengesetzter Fahrtrichtung vor dem Textilkaufhaus. Erfahrungsgemäß verwirrte es Zeugen über die Maßen, wenn sie nach einem Bankraub angeben sollten, in welche verschiedenen Richtungen welche Täter geflüchtet waren.

      Fall und Walter würden zuerst die Straße überqueren, während sie und Werders den Rückzug sicherten. Sie traute Ralf Werders mehr zu als Richard Fall. (Und sich selbst noch allemal mehr als den Männern der Gruppe – auch jenen, die in Haft saßen; es gab nur eine, die es an Härte mit ihr aufnahm: Edda – und offenbar war sie nicht einmal von irgendwelchen Zweifeln geplagt, was die Zukunft der Bewegung anbelangte.)

      Angelika stülpte ihre Perücke über, setzte die dunkle Brille auf. «Jetzt», sagte sie und öffnete den Wagenschlag.

      Eine Passantin stieß mit dem Kinderwagen vor die Tür, weil es zu plötzlich kam.

      «Passen Sie doch auf.»

      «Selber Zicke …», murmelte sie. Und beugte sich rasch in den Fond des Wagens zurück – als suche sie etwas in ihrer Handtasche, um mit ihrer Aufmachung, der Brille und der grellfarbigen Kunsthaarperücke, nicht aufzufallen.

      Dann wandte sie sich zum Eingang. Werders schob die Drehtür auf. Sie hatten sich davon überzeugt, dass es keine dieser Türen mit per Knopfdruck einrastenden Sicherheitsstiften war.

      Die Banken verzichteten jetzt auf solche Sperenzchen, weil sie das Leben ihrer Kunden gefährdeten. Niemand wollte verletzte oder tote Geiseln.

      Die Halle war ein ovaler Raum – im ersten Stockwerk mit umlaufenden Galerien, an denen Bürotüren lagen. Das Dach, es diente zugleich als Lichtschacht, bestand aus einer Aluminiumkonstruktion, von hellgrünem Glas und durchscheinenden Polyesterlamellen in der Form einer überdimensionalen Blume abgedeckt.

      Diese Banken investierten eine Menge von dem, was sie ihren Kunden abnahmen, in protzige Ausstattungen, dachte sie abfällig – um ihnen das Gefühl zu geben, sie bekämen dafür einen Gegenwert: dem erlauchten Kreis der Geldprominenz anzugehören (wahrscheinlich hatte Edda recht, wenn sie behauptete, eine zukünftige Gesellschaft werde erst ohne Geld völlig repressionsfrei und liberal sein).

      Sie sah rasch nach dem Wachmann. Er stand neben einer der beiden Kassen und wandte ihnen den Rücken zu.

      Walter und Fall liefen an ihnen vorüber bis zur Mitte der Halle. Walter zielte auf das rechte Bein des Wachmanns, und der Knall der schweren Waffe brach sich trocken zwischen den Wänden.

      Die Gestalt in der beigen Uniform sackte mit einem Schmerzensschrei zusammen.

      «Alles hinlegen, Überfall …», rief Richard Fall.

      Es waren kaum mehr als zehn Kunden im Raum – wenige junge Leute, alte Frauen, zwei schwarzgekleidete Schwestern, ein Kind, das sich wortlos auf den Boden setzte.

      Sie legten sich gehorsam hin; nur ein alter Mann mit großem, weißem Gesicht und ebenso hellen Händen, die wie betend aussahen, blieb auf den Knien. Niemand kümmerte sich um seine halb aufgerichtete Gestalt. Walter entwaffnete den Wachmann.

      Gut gemacht, dachte Angelika. Kompliment …

      Sie warf die beiden Packtaschen über eine der offenen Theken auf den Boden, die Angestellten in den schusssicheren Glaskästen verfolgten es stehend und mit verschränkten Armen – ungläubig, als sei alles nur ein Film … eine Probe, in der gleich der Regisseur «Aus – Klappe!» rufen würde, und: «Herrschaften, so geht das nicht.»

      «Vollmachen», rief sie. «Denken Sie an das Leben der Geiseln.» Sie presste den Lauf ihrer Waffe der alten Frau vor ihr in den Nacken. Die Frau zitterte.

      Einer der Angestellten, ein jüngerer, resolut aussehender Mann im Anzug und mit dunklem Schnauzbart – vielleicht der Filialleiter –, öffnete von innen die Tür und hob eine der beiden Taschen auf.

      Er begann sie vor der Kassenlade zu füllen.

      «Und jetzt die andere», schrie Fall. «Sie da … !»

      Er zeigte mit dem Lauf des Brownings auf die junge Kassiererin hinter den Scheiben der zweiten Kasse, es war ein ordentlich gekleidetes Mädchen – fast ein wenig zu akkurat –, schmächtig und doch selbstsicher wirkend, aber jetzt sah es erstarrt dem Wachmann in den Nacken, der vor ihr an der Theke saß.

      Das Bein blutete stark – und er hielt seinen Oberschenkel mit beiden Händen umfasst.

      «Na, machen Sie schon», sagte Angelika, sie stieß den Kopf der alten Frau nach vorn.

      Die Frau hatte ihr Sparbuch verloren, ein dünnes, rotes Heft. Es lag nahe der Theke. Sie sah hilflos zu ihm hin.

      «Bitte …», sagte der Alte mit dem heilen Gesicht, der neben ihr kniete und beschwörend seine großen, weißen Hände hob. «Seien Sie gnädig. Das Sparbuch … damit machen Sie sich doch nur …»

      Er fiel ihr in den Arm …

      Als sich der Schuss löste und ihn seitlich in den Hals traf, glaubte sie sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben … (auf einem Plakat vielleicht?). Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo das gewesen sein sollte. Er kippte vornüber auf den Boden.

      Das Mädchen stopfte zitternd Geld in die Packtasche. Sie legte sie auf eine der offenen Theken, schloss ihre Tür und lehnte sich blass an die Glaswand.

      Fall schob seine Waffe in den Gürtel und packte beide Taschen. Er eilte zur Drehtür. Die anderen folgten. Er war wie im Fieber. Sie sah es ihm an. Die reine Jagdlust, dachte sie.

      Auf den Stufen warf er Werders einen der beiden Packen zu. Dann lief er zwischen den hupenden Fahrzeugen über die Fahrbahn, öffnete den Wagenschlag, Walter war schon auf dem Sitz neben ihm, und als ihr VW langsam anfuhr, stieg sie mit


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