Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann
als Attentäterin. Aber natürlich würden sie alles tun, um ihn loszuwerden. Er hat ihnen seinen Kopf auf dem Silbertablett serviert. Irgendwo muss es einen Umverteiler geben, der die Kraft der Schwachen raubt und sie den Starken gibt.
Dr. Müller hebt entschuldigend beide Hände, als er Feldkamps fahles Gesicht sieht.
„Das ist nicht unsere Meinung. Aber so würde es dann in der Presse stehen: Gefeuerter renommierter Neurochirurg Mitglied einer terroristischen Vereinigung? Und seien Sie sicher, keine Zeitung würde dieses sie von aller Verantwortung befreiende Fragezeichen vergessen. Wollen Sie das sich und Ihrer Familie antun?“
Das will Feldkamp nicht. Er will sich auch nicht vor seiner Frau Pergola blamieren. Selbst wenn sie nichts sagt, sieht sie ihn doch täglich abschätzig an. Deshalb verschweigt er ihr die Katastrophe.
„Wie war es? Du warst lange weg“, meint sie und blättert eine Seite ihres Modejournals um.
Sie fühlt sich von ihm gestört und hofft, er möge schnellstmöglich in sein Arbeitszimmer verschwinden. Feldkamp kennt das, und er hat sich dem schon längst unterworfen.
„Es gibt solche und solche Tage. Heute war ein solcher Tag.“
Das sagt er immer, wenn ein Tag anders als erwartet verlaufen ist. Doch heute wünscht er keine Nachfrage.
„Ich meine, wo du von Donnerstag bis jetzt gewesen bist. Nicht, dass mich das was anginge. Ich bin ja nur deine Frau und keiner deiner Kollegen oder Patienten.“
Feldkamp lässt sich ächzend neben sie auf das Sofa fallen und legt die Aktentasche wie ein Schutzschild über seine Knie. Er nickt stumm. Natürlich hat sie wie immer Recht. Seine Kündigung hat alles andere in den Schatten gestellt, unwichtig und fade werden lassen. Pergola rückt ein wenig von ihm ab.
„Ich war in Algier.“
„Bei Wolfgang?“
„Ich habe dort operiert. Aber irgendwie ging alles schief. Man sagte mir, man habe dich benachrichtigt. Aber offensichtlich ist das nicht geschehen.“
Pergola blättert ununterbrochen ihr Journal um. Als sie am Ende angekommen ist, fängt sie wieder von vorne an.
„Das ist ja wieder typisch für dich“, lacht sie bitter. „Um deinen Nächsten kümmerst du dich einen Dreck. Wie ich zurechtkomme, ist dir egal, und Tankreds Probleme verdrängst du erfolgreich. Er braucht Geld.“
Harry Feldkamp schweigt eine Weile. Es hat keinen Zweck, sich zu verteidigen, sie würde es nicht verstehen.
„In was ist der Kerl da reingeraten?“, fragt er dann. „Unser Sohn ist auf der schiefen Bahn.“
„Seit wann kümmert dich das?“, schnaubt sie. „Du vergräbst dich in deiner Klinik und überlässt mir die Drecksarbeit. Jahrelang hast du feige die Augen verschlossen und von pubertären Auswüchsen geschwafelt. Aber jetzt, wo die Auswüchse Geld kosten, ist dein Sohn auf der schiefen Bahn und ich bin schuld, so.“
Pergola ist immer noch attraktiv und sie hat nichts von ihrer Unberührbarkeit verloren, auch wenn das Seidenweiße ins Elfenbeinfarbene übergegangen ist, denkt er. Doch an eine Berührung, die über das Zufällige hinausginge, ist nicht zu denken.
„Vielleicht sollte ich mich mehr um ihn kümmern“, sagt er leise.
„Da wird sich Tankred aber freuen!“, lacht sie sarkastisch.
Feldkamp kann nicht mehr schlafen, weil er mit Zach hadert. Er steigert sich jede Nacht in gedankliche Diskussionen mit ihm hinein, die ihn bis zum Morgen wachhalten. Um sechs Uhr muss er übermüdet Bett und Wohnung verlassen, um den Schein einer beruflichen Tätigkeit zu wahren. Er kann sich nicht in Frankfurt sehen lassen, weil ihm dort sicher ein Kollege über den Weg laufen würde. Das Gleiche gilt für Mainz und Wiesbaden. Er ist zu bekannt. Er sucht im Ärzteblatt in den Stellenanzeigen nach etwas Passendem. Seine Bewerbungen schreibt er in Internetcafés, weil er Pergola fürchtet. Doch niemand möchte einen geschassten leitenden Arzt von bald fünfzig Jahren einstellen. Er fährt sogar persönlich vor, bietet sich wie Sauerbrot in Vorstellungsgesprächen an. Vielen ist er bekannt, weil die Neurochirurgie ein kleines Fachgebiet ist, in dem jeder jeden kennt. Das ist peinlich!
Man will wissen, weshalb er als erfolgreicher Neurochirurg mit 48 Jahren einen Neuanfang wagen will, weshalb ausgerechnet hier bei uns? – Ah, Sie wollen von dort weg, verstehe. Wir stellen uns eher Mitarbeiter vor, die zu uns hin wollen.“
Wenn es gut läuft, schweigen die Gesprächspartner und sagen zum Schluss „Wir lassen von uns hören!“.
Wenn es schlecht läuft, will man von ihm wissen, weshalb man ihn denn freigesetzt habe: unerlaubtes Sichentfernen vom Arbeitsplatz, Entwendung von Klinikeigentum, despektierliches Reden über die Geschäftsführung – ach ja? – peinlich, peinlich!
Und abends erzählt er Pergola von erfundenen Operationen.
Schließlich engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe. Doch der Umgang mit den unwilligen, jedes Fremde ablehnenden Fundamentalisten frustriert ihn. Nicht viel anders ergeht es ihm bei der Nachhilfe für Kinder aus dem Prekariat.
„Aber mei Papa sacht, des brauch isch net wisse. Isch will jetzt de Oliver Geissen sehe …“ Das ganze Land scheint zum Prekariat geworden zu sein und er gehört jetzt dazu, denkt er.
Die leere Zeit stürzt ihn noch mehr in Verzweiflung. Über seiner Arbeit und seinem Engagement für andere hat er die Belange des eigenen Sohnes vergessen. Tankred hat ihn einfach nicht interessiert. Sein Beruf war die beste Therapie, um Tankreds Probleme zu verdrängen. Das ist jetzt vorbei. Er muss ihn jeden Tag sehen. Tankred hält mit dem Erreichen eines mittelmäßigen Abiturs seine Lebensleistung für abgeschlossen.
***
„Ich brauch Geld!“
So lautet der einzige Satz, den der Sohn und an den Vater richtet. Feldkamp kann nicht Nein sagen, doch er möchte wissen weshalb und verfolgt einen Tag lang den Lebensweg seines Sohnes.
Er nutzt den Vormittag, an dem Pergola im Tennisclub ist. Er hätte auch den Golfclubtag nehmen können. Doch beim Tennis ist sie länger fort, weil ihr der Tennislehrer gefällt.
Als er gegen elf Uhr zu Hause eintrifft, findet er Tankred vor dem PC, wo er wie besessen Online-Poker spielt. Wütend reißt Feldkamp den Stecker aus der Dose. Der PC stürzt ab, Tankred heult auf: „Gerade wo ich am Gewinnen bin!“
„Du bist nie am Gewinnen. Ich werde dir kein Geld mehr für deine Sucht geben! Such dir einen Job wie andere auch“, schreit der Vater seinen Sohn an.
Das sind die eher ungeeigneten Sätze für eine Suchttherapie. Tankred kann nicht ablassen. Ihn verfolgt seine Spielsucht und Harry Feldkamp verfolgt ihn. Er stellt seinem Sohn nach, sieht, wie dieser mit Kumpels ins Spielkasino in Wiesbaden geht. Er selbst fühlt sich dort fremd. Doch sein zwanzigjähriger Sohn benimmt sich wie ein alter Hase.
Es ist an einem späten Nachmittag mitten in der Woche. Nur drei Roulette-Tische und zwei Black-Jack-Tische sind frei. Tankred geht von Tisch zu Tisch und wirft Chips auf die Nummernquadrate des grünen Filzes. Man hört das unterschiedliche Klicken der Chips, je nachdem ob sie geworfen, gestreut oder zu Türmen gestapelt werden. Alles scheint sich irgendwie zu einem organischen Geräuschensemble zusammenzufügen, das sich aus dem Hörbewusstsein herausschleicht und sich in einem eigenen Luftstrom verwirbelt. Und durch dieses Gegeneinanderreiben, Klicken und Gleiten entsteht, für den sensiblen Zuhörer, ein eigener Ton, ähnlich der von Zikaden, ähnlich einer Filmmusik, die den Untergang begleitet. Da gibt es keinen James-Bond-Typen, gut gekleidet, lässig, Martini trinkend – gerührt und nicht geschüttelt. Alle sind sie verlorene Seelen, zugedröhnt und bedrückend still. Nur ein „Rien ne va plus!“ ist zu hören. Tankreds Finger, die wie eine Spinne die Chips umkrallen, nachdem er die Chips geworfen hat, lösen sich in dem Augenblick, in dem die Kugel noch unentschlossen über die Fächer stolpert. verkrampfen sich wie beim Schmerz eines Herzinfarkts, wenn sie ins falsche Feld fällt. Schließlich entspannen sich seine Gesichtsmuskeln und Tankred geht zum nächsten offenen Tisch weiter. Harry Feldkamp ist, als