Am Ende des Wohlstands. Shimona Löwenstein

Am Ende des Wohlstands - Shimona Löwenstein


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Schröder an die Adresse des „Wahlbetrugs“ von Gerhard Schröder: „Genau genommen dau­ert diese Krise schon über 30 Jahre. Sie ist eine schleichende Krankheit, deren Symptome nur vorübergehend immer wieder verdeckt worden sind, wenn der Ölpreis sank oder die Weltkon­junktur anzog und ein Wachstumsschub Geld in die stets überforderten Kassen des Staa­tes oder der Sozialversicherungen lenkte. Keine der beiden großen Volksparteien kann sich rühmen, dem Patienten Deutschland je eine Rosskur verordnet zu haben.“ [33]

      Wie die Politik die Wirklichkeit einer sich verändernden Welt verdrängt und sich Wohlstandsil­lusionen über eine heile Welt hingibt, beschrieb 2002 Meinhard Miegel in seinem Buch Die deformierte Gesellschaft. Auch in der gleichnamigen Radiosendung wurde darüber berichtet, wie die heutigen Probleme (Überalterung, Arbeitslosigkeit, Verar­mung und Krise des Sozialstaats), die auf einen dramatischen Wandel sämtlicher Strukturen der Gesellschaft hinweisen, von den Deutschen, vor allem den Politikern nicht wahrgenom­men, und schon überhaupt nicht zu lösen versucht werden. [34] Die deutsche Politik sei durch Man­gel an Perspektiven, Versäumnisse und Fehlentscheidungen gekennzeichnet. Die politi­schen Diskussionen um Einwanderung, Arbeitslosigkeit usw. seien sämtlich vergangenheitsbezo­gen und wirklichkeitsfern: Unberücksichtigt bleiben die demografische Ent­wicklung, [35] vor allem die Alterung der Bevölkerung und die Zuwanderungsproblematik, die veränderten Bedingungen von Wirtschaft und Beschäftigung seit den siebziger Jahren, wo­nach keine hohen Wachstumsraten mehr zu erwarten sind, [36] sowie die Tatsache, daß selbst das schon lange ausbleibende Wachstum bei einer hohen Wissens- und Kapitalintensität keine zu­sätzlichen Arbeitsplätze mehr schaffen wird. Durch eine Förderung des Mittelmaßes, fal­sche Bildungspolitik, Vermeidung von Elitenbildung und Verschwendung oder Fehlleitung des Humankapitals durch ungenutztes Wissen von arbeitslosen Akademikern verkümmert der Wissensbestand der Gesellschaft; [37] durch verschwenderische unproduktive Ausgaben und veral­tete Gewerkschaftspolitik wird auch der Kapitalstock bzw. dessen Produktivität vermin­dert. [38] Aber gerade diese Quellen des Wohlstands (Wissen und Kapital) [39] werden in Deutsch­land zu wenig gefördert, ja allmählich zugeschüttet. Ideologische Hintergründe, falsche Vorstellun­gen und Machtinteressen verhindern es, sich auf die Veränderungen der Lebenswirklich­keit einzustellen und den allgemeinen Niedergang der deutschen Wohlstandsgesell­schaft abzuwenden.

      Nach Gabriele Metzler bestand der Grund für die Effizienz- [40] und Legitimationskrise (staatli­cher Interventionismus auf Kosten der Freiheit) [41] des deutschen Sozialstaats seit den 70er Jahren im Zusammentreffen von verminderter staatlicher Handlungsfähigkeit (Reform­blockaden, „Unregierbarkeit“) und gestiegenen Erwartungen (Überforderung) infolge der Entwicklung in den 60er Jahren, in denen eine erweiterte Interpretation des Sozialstaats und eine gleichzeitige „Revolution der Erwartungen“ eingeleitet wurde. Metzlers Haupt­these lautet: Der Sozialstaat ist ein Projekt der „ersten Moderne“, der seine Grenzen erreicht hat. Diese sind wirtschaftlich durch die Unmöglichkeit seiner Finanzierbarkeit (Kostenexplo­sion) aufgrund der demographischen Entwicklung (Bevölkerungsrückgang, Alterung) und der Koppelung der Alterssicherung an Erwerbsarbeit (Arbeitslosigkeit) sowie soziokulturell (Entsolida­risierung und Individualisierung) gegeben. [42] Die Tatsache, daß zwar Neuerungen einge­führt, ein Sparkurs eingeleitet, aber keine echte Umkehr stattfand und grundsätzliche Lö­sungsvorschläge oder Strategieentwürfe immer nur Gegenstand akademischer Diskussionen geblie­ben sind, erklärt sie vor allem durch die große Resistenz und den Strukturkonservativis­mus der Institutionen, verbunden mit den Reformblockaden diverser Lobbys und der Kosten­frage. Damit wird die These von der „Pfadabhängigkeit der Entwicklungen“ und ihrer prakti­schen Unumkehrbarkeit gestützt. Der deutsche Sozialstaat war als ein Sozialversicherungs­staat konstruiert und ist es trotz aller Wandlungen und ideologischen Anstriche bis heute geblie­ben. [43]

      Inwiefern die deutsche Sozialpolitik bis heute durch Kontinuität mit Bismarcks Sozial­staat oder auch von bestimmten neuen Trends geprägt ist, müßte einzeln untersucht werden. Die Denkweise, auf der das immer wieder festgestellte kurzsichtige politische Handeln be­ruht, gehört jedenfalls eher in die vormoderne Zeit und ähnelt der Art und Weise, wie sich bei­spielsweise der Feudalherr die benötigten Mittel von seinen Untertanen holte: durch eine Steuer- oder Abgabenerhöhung. Sie geht von der naiven Überlegung aus, daß mehr Steuer doch mehr Geld in die staatliche Kasse einbringt – eine „Milchmädchenrechnung“, die nicht auf­kommt. Elementare Kenntnisse wirt­schaftlicher Zusammenhänge ergeben auch ohne kompli­zierte Berechnungen von Wirtschaftsexperten, daß das Defizit am Ende der Periode höchst­wahrscheinlich eher größer wird. Dennoch ist es bis heute die häufigste Form, wie auf Geldmangel reagiert wird. Die Kreativität, mit der neue Steuern erfunden werden (einmal war so­gar die Rede davon, Bettler zu besteuern!), könnte nur noch mit der Kompliziertheit des gan­zen Besteuerungssystems verglichen werden, die es – im Widerspruch zu dem proklamier­ten Gerechtigkeitsbestreben – ganz anderen Gruppen als den Bedürftigen, oft großen Konzer­nen und Gutverdienenden, ermöglicht, von bestimmten Begünstigungen zu profitieren. [44] Ein Gut­achten prominenter Finanz- und Wirtschaftsinstitute empfahl der Bundesregierung 5 von 20 größten Steuervergünstigungen zu streichen; die Subventionen seien nicht gerechtfertigt und wirtschaftlich unsinnig. Verwirklicht wurde davon so gut wie nichts. Die unter Schröders Kanzlerschaft durchgeführte „Steuerreform“ hat sich als halbherzig, unwirksam und un­gerecht erwiesen. [45]

      Daß eine konsequente Steuerreform in der Union ebensowenig durchsetzbar ist wie in der SPD, wurde deutlich, als man merkte, wie schnell Vorschläge wie das Steuerkonzept von Fried­rich Merz, mit dem man seine Steuererklärung „auf einem Bierdeckel“ berechnen könnte, oder auch die Reformvorstellungen von Paul Kirchhof, dem „Professor aus Heidel­berg“ aufgeweicht, „weichgespült“ und zu einem halbherzigen Kompromiß verwandelt wur­den. Dabei war Kirchhofs Argumentation nicht weltfremd, und auch nicht durch bloße Nützlichkeitserwägungen geprägt, sondern prinzipiell und (im Gegensatz zu den vielen Begründungen von Sonderrechten durch „soziale Gerechtigkeit“, „Gleichstellung“ usw.) gerade durch die Gerechtigkeitsvorstellung einer Rechtsordnung im Rechtsstaat (im Gegensatz zur Willkür) begründet: Diese beruht zugleich auf der Idee der Freiheit (der individuellen Selbstverantwortung, etwa für den eigenen wirtschaftlichen Erfolg) und der Gleichheit, d.h. der rechtlichen Gleichbehandlung aller als eines elementaren Teils der Gerechtigkeit. Dem deutschen Steuerrecht ist aber nach seiner Meinung der Gerechtigkeitsgedanke weitgehend abhanden gekommen: das Steuerrecht verfehlt die gleichheitsgebotene Unausweichlichkeit, weil es durch die diversen Steuervergünstigungen und –anreize das Wirtschaften auf Nebenwege verleitet, in dem es nicht die finanzielle Leistungsfähigkeit, sondern das steuertaktische Geschick begünstigt und zu unproduktiven Ausweichmanövern (Fehlleitung des Kapitals, Steuertricks) und Steuerhinterziehung einlädt. In dem von ihm vorgeschlagenen Modell sollte dagegen auf alle unnötigen Differenzierungen (etwa in bezug auf die Einkunftsart, Steuerklassen u.ä.) und Vergünstigungen (Ausnahmen, Lenkungs- und Privilegierungsbestände) verzichtet und die Einkommenssteuer vereinheitlicht werden. Das Steuerrecht soll für alle verständlich und als gerecht empfunden werden, die Steuererklärung so einfach sein, daß man darauf keine unnötige Zeit und Energie mehr verschwenden muß, und die Steuerlast wieder zu einer verläßlichen Planungsgrundlage werden. [46]

      Der Wille zu einer Grundlagenreform des Sterrechts oder auch anderer Bestandteile der sozialstaatlichen Strukturen war aber auch bei den Christdemokraten nicht vorhanden. Ihre Politik besitzt ebenfalls keine tragbaren Konzepte. [47] An dieser Eigenbewe­gung in die Katastrophe konnte die Große Koalition und die Kanzlerschaft Angela Merkels, die weder ein sinnvolles Reformkonzept noch das Format einer Margret Thatcher besitzt, auch nicht viel ändern. Was seitdem an „Reformen“ angeboten wurde, brachte eher Spott oder Zorn der Öffentlichkeit als eine tragbare Lösung zutage. Dennoch werden diese „Mogelpakete“ als „notwendige tiefgreifende Reformen“ präsen­tiert, und zwar nicht nur von der politischen Prominenz selbst. Die an sich interessante Ausstel­lung über deutsche Sozialgeschichte In die Zukunft gedacht thematisierte zum Schluß auch die in den letzten Jahren vorgenommenen Änderungen in der Sozialpolitik: Gemäß Ger­hard Schröders „Agenda 2010“ sollen eingeführte Arbeitsmarktreformen (Hartz-Gesetze), Gesund­heits-, Pflege- und Rentenreform (z.B. Rente ab 67) sowie weitere sozialpolitische Maß­nahmen (Förderung von Menschen mit Behinderungen und Familiengeld)


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