Beispielhaft. Claus Karst
halten? Er dachte nach. Ein mögliches Versteck kam in den Sinn, da kaum jemand den nahen Wald besser kannte als er. „Ich geh noch ein bisschen draußen spielen“, rief er, ohne eine Zustimmung seiner Eltern abzuwarten, und rannte in den Wald. Dort befand sich, hinter fast undurchdringlichen Büschen verborgen, eine kleine Höhle, in der Tadek und er öfter Unterschlupf gesucht hatten, wenn es regnete. Von deren Vorhandensein wusste wahrscheinlich kaum jemand. Auf den ersten Blick erkannte der Junge, dass Tadek hier gewesen sein musste. Auf einem Stein lag, in einem Futteral, Tadeks Mundharmonika mit einem Zettel, auf dem in einer fremden Sprache in Großbuchstaben geschrieben stand:
NIE ZAPOMNIJ MNIE, MOJ MALY BRACISZKU.
Hermann steckte den Zettel in seine Tasche. Er begriff schweren Herzens, dass er Tadek nie mehr wiedersehen würde. Seinen liebsten Spielkameraden hatte er verloren. Tränen abgrundtiefen Schmerzes bemächtigten sich seiner, er vergaß die Zeit. Erschöpft schlief er schließlich in der Höhle ein und wurde erst wieder wach, als er draußen – es war noch dunkel – seinen Namen rufen hörte. Verschlafen kroch er aus seinem Versteck und legte sich schnell unter den nächsten Baum, wo er sich von seinen besorgten Eltern auffinden ließ. Tapfer hörte er sich ihre Vorwürfe an, ohne ihnen zu verraten, was ihn in den Wald getrieben hatte.
Olgas Heimatdorf war im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, ihre engere Verwandtschaft hatte den Tod gefunden. Daher hatte sie sich entschlossen, vorläufig noch auf dem Hof zu verbleiben, was den Bauersleuten recht war. Sie übersetzte, was Tadek geschrieben hatte:
VERGISS MICH NICHT, MEIN KLEINER BRUDER.
Lange Zeit konnte Hermann seine Traurigkeit nicht überwinden. Tadek fehlte ihm zu sehr. Er vermisste ihn, seinen großen Bruder, zumal er selbst keine Geschwister hatte. Als er sich auf dem Hof auf die Suche nach dem Windvogel machte, blieb er ohne Erfolg. Er vermutete, dass Tadek ihn in der Tat zur Flucht benutzt hatte, äußerte seinen Verdacht jedoch mit keinem Wort. Die Mundharmonika hütete er als kostbarstes Juwel seiner Kindheit, aber er spielte nur noch gelegentlich auf ihr, weil ihr Klang ihn mit Herzweh erfüllte.
Neue Erfahrungen überfluteten ihn, den aufs Leben neugierigen Jungen, neue Abenteuer vermengten sich mit seinen Erinnerungen. Schließlich verklangen die Töne der Mundharmonika vollends und verflüchtigten sich in sein Unterbewusstsein, nicht aber die von Tadek geweckte Liebe zur Musik.
Bei einem Umzug ging die Mundharmonika später verloren. Mit ihr versiegten letztlich auch die traurigen Erinnerungen an seinen verlorenen Freund.
Als Hermann ein paar Tage nach seinem Geburtstag das Buch zur Hand nahm und darin zu lesen begann, wurde schlagartig seine Kindheit wieder lebendig. Er spürte, wie sein großer Bruder Tadek den Arm um seine Schulter legte und hörte ihn fragen: „Soll ich spielen für dich auf der Mundharmonika, kleiner Bruder?“
Ehe Hermann antworten konnte, erklangen die Töne einer Mundharmonika in seinen Ohren mit den schwermütigen Melodien aus Tadeks Heimat.
In diesem Moment fühlte er sich zurückversetzt in die Tage unbeschwerter Kindheit, und ein glückliches Lächeln legte sich auf seine Gesichtszüge.
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