Oskar Lafontaine. Robert Lorenz
September 2013 erscheinen wird. Neben einer detaillierten Rekonstruktion von Lafontaines Biografie wird sich daher hier auch keine ausgiebige Diskussion des Forschungsstandes oder eine ausführliche Darstellung der angewandten Methodik finden. Vielmehr versteht sich die vorliegende Schrift als biografischer Essay, der zwar das Lafontaine’sche Mysterium zu ergründen sucht, vor allem jedoch zum Verständnis von Lafontaines Wirken in dem Projekt einer neuen Linkspartei seit 2005 beitragen soll – und damit den Schwerpunkt auf ein spätes Kapitel von Lafontaines umfangreicher Karriere legt.
Zur Biografiewürdigkeit Oskar Lafontaines
Als bedeutsames Kriterium für den Nutzen von Biografien kennt die Wissenschaft die „Repräsentativität“17, d.h. inwiefern das jeweilige Untersuchungsobjekt exemplarisch für eine Gruppe, eine Zeit o.Ä. ist. Dahinter steht die Überlegung, Aussagen über die eine auch auf andere, ähnliche Personen verallgemeinern, mit dem Blick auf einen einzelnen Charakter also Aussagen auch über den Analysegegenstand hinaus treffen zu können. Ist Lafontaine aber nicht außergewöhnlich, dadurch einmalig? In mancher Hinsicht mag das zutreffen, doch Lafontaine ist Vertreter einer Generation von Politikern, die ein gewandeltes Verständnis politischer Parteien, Karrieren und Führung besitzen. Hier weicht er von den Politikern der „Mediendemokratie“ also nicht ab, sondern kann durchaus als beispielhaft für sie gelten. Ihm im Umkehrschluss aber jegliche Einzigartigkeit abzusprechen, wäre freilich ein Trugschluss. Denn allein Lafontaines politische Karriere ist derart außergewöhnlich, dass sich kaum Pendants finden lassen. Das wiederum rechtfertigt erneut eine biografische Betrachtung; denn inwiefern und weshalb war Lafontaines Vita derart extravagant? Kurzum: Das Beispielhafte und das Einzigartige an Lafontaines Karriere erzeugen gleichermaßen Erklärungsbedarf, machen aus Lafontaine eine „biografiewürdige“ Person und geben Politikwissenschaftlern insofern ausreichenden Anlass zur eingehenden Betrachtung.
Und nicht zuletzt sollten Biografien den Anspruch enthalten, einer ungerechtfertigten Mythenbildung entgegenzuwirken und die historische Überlieferung nicht der betreffenden Person selbst zu überlassen.18 Denn schnell entstehen bei der Betrachtung von einflussreichen Persönlichkeiten unangemessene Heldengeschichten und Erfolgsbilanzen. Insbesondere bei solch medienpräsenten Personen wie Lafontaine existieren weitverbreitete Bilder, die sehr resistent gegen abweichende Interpretationen sind. Hier ist Vorsicht geboten: „Mythen“, schreibt der Historiker Wilhelm Füßl, „verstellen dem Biographen häufig unbewusst den Zugang zu seinem Untersuchungsobjekt. Eine der Hauptaufgaben des Biographen muss demnach sein, die Wand von Klischees und Mythen zu durchbrechen, um ein Bild der historischen Person gewinnen zu können.“19
Biografien, die viel gerühmte „Königsdisziplin“20 der Wissenschaft, eignen sich als Analyse konkreter Personen oftmals weitaus besser als Darstellungen zu abstrakten Sujets wie einer Gesellschaft oder einer Epoche, um den Leser – bestenfalls ein breites, auch nichtwissenschaftliches Publikum – durch eine mitreißende Erzählung zu fesseln, Zusammenhänge zu vermitteln und auf bedeutsame Aspekte der jeweiligen Zeit aufmerksam zu machen.21 Tunlichst sollte man allerdings von der Vorstellung abrücken, im Rahmen einer einzigen Biografie eine komplette Darstellung einer Person erreichen, gar eine exakte Charakterisierung vornehmen zu können. Vielmehr erzeugen Biografien ein spezifisches Bild einer Person, das sich im Verlauf weiterer Biografien anderer Autoren – aus anderen Zeiten und anderen Perspektiven – verändern kann; in der Regel setzen sie unterschiedliche Akzente und Schwerpunkte, interpretieren dieselben Handlungen und Ereignisse mitunter gegensätzlich und sehen den Portraitierten zumeist in jeweils anderer Rolle.22 „Die biographische Wahrheit einer Person“, so der Germanist Bernhard Fetz, „ist nichts, das feststeht bzw. durch auch noch so exakte Rekonstruktions- und Recherchearbeit definitiv geklärt werden könnte; sie wird mit jedem biographischen Projekt neu verhandelt.“23 Zumal Biografien dazu neigen, historische Ereignisse aus der Sicht der portraitierten Person zu erzählen, wodurch lediglich deren Sichtweise auf Abläufe und Geschehnisse rekonstruiert wird, dadurch aber Verzerrungen entstehen, andere mögliche Perspektiven verdeckt bleiben.24
Mag dieser Umstand zunächst auf eine Schwäche der Gattung „Biografie“ hindeuten, so lässt er sich freilich auch als Vorteil auslegen: Dann nämlich, wenn man historische Ereignisse von unterschiedlichen Ausgangspunkten her, eben denen verschiedener Akteure, betrachtet und dadurch vielseitige Informationen und Ausgangslagen erhält. Auf diese Weise wandelt sich die vermeintliche Schwäche der Biografie in eine faktische Stärke. Das Modellhafte, aber auch das Besondere einer Person, der Sinn auch mehrfacher Betrachtung derselben Persönlichkeit und die Notwendigkeit, unzulässiger Mythenbildung, aber auch Fehlurteilen entgegenzuwirken, sind die Gründe, weshalb Oskar Lafontaine ein lohnenswertes Forschungsobjekt ist und dessen Analyse erhellende Erkenntnisse über politische Führung verspricht.
Aufstieg und Fall
Optimus maximus: die frühen Jahre in der Politik
Längst ist Oskar Lafontaine eine Person des öffentlichen Lebens. Man kennt ihn nicht zuletzt als einen Aufmüpfigen, einen Polit-Revoluzzer. Manche sind geneigt, von einem politischen Raufbold zu sprechen. Und darin zeigt sich ein Merkmal seines Wesens, das schon den Beginn seiner politischen Karriere markiert: Denn anfangs taucht er in Berichten über die Saar-SPD als Juso-Parteirebell auf. Die Geburtsstunde dieses „öffentlichen Lebens“ liegt daher irgendwo in den ausgehenden 1960er Jahren. Doch Lafontaines eigentliche Medienpremiere datiert aus dem Mai 1970 – einer inzwischen fern anmutenden Zeit, das Jahr, in dem die Beatles ihr letztes Studioalbum veröffentlichen, Jim Hendrix stirbt, die USA in Kambodscha einmarschieren und sich die Rote Armee Fraktion formiert. Damals erregt Lafontaine das erste Mal bundesweites Aufsehen, ist sein Name nicht nur der eines Nebendarstellers im Polittheater, sondern der einer Hauptfigur – in einem Gerichtsverfahren, das seinerzeit als der „seit langem größte politische Prozess des Saarlandes“25 gehandelt wird. Lafontaine, gerade erst 26 Jahre alt, hat der schwarz-gelben Landesregierung Korruption und fahrlässigen Umgang mit Landesvermögen vorgeworfen, diese ihn daraufhin ihrerseits wegen Beleidigung angeklagt – mangels Zeugen und einer zwischenzeitlichen Erklärung Lafontaines, in der dieser seine Vorwürfe weitgehend zurückzieht, endet das Verfahren ein Jahr später.26 Ein angesichts der anfänglichen Dramatik des Vorgangs kurioses Ende: Aber da hat sich Lafontaine längst mit einem Konflikt exponiert und in die Medien gebracht – der Ausgang des ursprünglichen Anlasses ist da nur noch zweitrangig, vermutlich sogar lästig geworden. Das ist ein Muster, das Lafontaine auch in Zukunft anwendet, ja das seither fester Bestandteil seines politischen Führungsrepertoires ist.
Und auch zuvor ist von ihm mit dieser Taktik Notiz genommen worden: Im Frühjahr 1968 zählt er als „Reformer“ zu den „jungen zornigen SPD-Männer[n]“, die in ihrem Landesverband die lethargische Parteielite herausfordern.27 Lafontaine also: ein aufmüpfiger, talentierter Jungspund, klar. Wie viele andere vor und nach ihm hätte der damals noch mangels anderer Zuschreibungen als „Physiker“ titulierte Nachwuchspolitiker nach einem kurzen Aufbrausen auch wieder in der Versenkung verschwinden können – aber er tut es nicht.
Eine Sache wird ihm in dieser Zeit schon bald zur Gewohnheit werden: Meist ist er der Jüngste und – augenscheinlich – Beste. Im für politische Verhältnisse zarten Alter von 28/29 Jahren gehört Lafontaine – das „größte politische Talent der Opposition“28 (Die Zeit) – bereits zu den Spitzengenossen an der Saar, gilt als einer der Anführer der dortigen SPD-Opposition und als sicherer Anwärter auf den Posten des Oberbürgermeisteramtes in der Landeshauptstadt Saarbrücken – und bald auch als designierter SPD-Landeschef und gar Ministerpräsident.29 Natürlich: An der Spitze angelangt ist Lafontaine damit noch lange nicht, in aller Munde ist sein Name ebenfalls noch nicht und der fortgesetzte Weg nach oben keineswegs ausgemacht. Doch alles andere wäre für sein geringes Alter auch eher verrückt gewesen – insofern hat Lafontaine aus damaliger Sicht für seine Verhältnisse bereits Enormes erreicht und viel Größeres scheint ihm noch bevorzustehen. Ein vorgezeichneter Weg ist es dennoch nicht, noch immer kann ihm ein ähnliches Talent in die Quere kommen, kann er die Lust an der Politik verlieren und sich anderen Tätigkeiten zuwenden.
Aber politischer Instinkt und politisches Talent Lafontaines sind dermaßen ausgeprägt, dass