Von Vampiren, Kriegern und Dieben. Heike Möller
Tristan wurde immer neugieriger auf die Frau, versuchte es aber zu verbergen. „Also, Leilani. Wer ist dein Auftraggeber?“
Sie kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht sagen“, stieß sie hervor.
„Also gibt es einen Auftraggeber. Schön. Kannst du mir wenigstens sagen, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde?“
Leilani biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann. Tristan sah das Blut und reagierte instinktiv. Er schoss zu der Couch und beugte sich über Leilani, die einen kleinen, verängstigten Schrei ausstieß. Sie sah in zwei dunkelgrüne Augen, deren Iris von einem goldenen Kranz umschlossen wurde. Irgendwie sah dieser Mann sie … begehrlich an.
„Bitte nicht!“, stammelte sie.
Das ernüchterte Tristan auf der Stelle. Das Blut der Frau, selbst dieser kleine Tropfen, hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihn und plötzlich wusste er, was der Duft bedeutete, den er die ganze Zeit wahrnahm.
Leilani Fischer war eine Jungfrau!
„Entschuldige, ich … ich wollte dir keine Angst einjagen“, sagte er leise und zog sich augenblicklich wieder auf seinen Sessel zurück. Rasch drehte er sich eine Zigarette, steckte sie an und betäubte seinen Geruchssinn mit dem Tabak.
Erstaunt sah sie den großen Mann an. Damit hatte Leilani nicht gerechnet. Irgendetwas schien diesen Mann zu verwirren, zu verunsichern. „Ich hatte lediglich den Auftrag, das Ei zu stehlen. Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie machen. Und warum mein Auftraggeber ausgerechnet Ihr Fabergé-Ei haben will. Wirklich, das ist die Wahrheit.“
Tristan sah sie durch den Rauch seiner Zigarette an. Dann kam ihm auf einmal ein unglaublicher Gedanke, ein Verdacht. >Großer Gott, das kann doch nicht sein. <
„Hat Darius dich geschickt?“
Leilani sah ihn ratlos an. „Darius? Ich … ich kenne keinen Darius. Wirklich nicht. Ich meine, ich kenne den Namen nur aus Geschichtsbüchern. Perserkönig. Kämpfte gegen Alex…“
„Danke, Leilani. Ich brauche keinen Geschichtsunterricht“, murmelte Tristan geistesabwesend. Nur ein Vampir, der einen anderem Vampir eine Falle stellen wollte, würde ihm eine Jungfrau schicken. „Wie alt bist du?“
Verdutzt blickte sie dem Mann in die Augen. Waren die heller geworden? Mehr Braun als Grün? „Vierundzwanzig. Warum?“
Er konnte ihr kaum unter die Nase reiben, dass er wusste, dass sie eine Jungfrau war. „Du sagst, du kennst deinen Auftraggeber nicht. Wie bekommst du deine Aufträge?“
Leilani schluckte. Was hatte sie jetzt noch zu verlieren? „Bitte, liefern Sie mich der Polizei aus.“
Tristan sah die junge Frau lange und grübelnd an. Sie war mutig, aber im Moment hatte sie Angst. Nicht davor, in den Knast zu gehen. Auch nicht davor, ihre Geheimnisse zu verraten, dass roch er.
Sie hatte Angst, dass er es sich nochmal überlegen würde und ihr vielleicht doch zu Nahe trat.
>Verdammt, so tief bin ich nicht gesunken. Ich …. Merde! <
Tristan drückte die Zigarette aus und ergriff das Küchenmesser, dass auf dem Couchtisch lag. Leilani sah es und ihre Augen wurden riesengroß.
„Nein!“, hauchte sie und ging in Abwehrposition.
„Ruhig, Leilani. Ich will nur deine Fesseln durchschneiden. Bleibe einfach still sitzen.“ Tristan schnitt ihr zuerst die Fußfesseln durch, dann die Handfesseln. Ungläubig sah sie ihn an.
„Du kannst gehen. Fürs erste.“
„Sie lassen mich gehen?“
Er nickte. „Ich bring dich zur Tür. Komm.“ Er nahm ihren Ellenbogen und zog sie hoch. Wie betäubt ließ sich die junge Frau zur Eingangstür ziehen. „Schaffst du es, allein zu gehen?“
Leilani verstand die Wendung nicht. Sie hatte mit dem Schlimmsten, wirklich Allerschlimmsten gerechnet. Aber nicht mit einer höflichen Fürsorglichkeit. Sie nickte stumm, zitterte immer noch.
Tristan gab den Code in die Alarmanlage, der die Alarmbereitschaft aufhob. Dann öffnete er die Tür. Die Nachtluft war nicht wirklich kühl, aber es kam Tristan auf einmal sehr kalt vor. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen und ein Verdacht.
„Geh. Und traue niemanden.“ Das verwirrte Gesicht der jungen Frau begleitete ihn noch, als er die Alarmanlage wieder scharf gemacht hatte und in sein Arbeitszimmer ging. Nachdenklich öffnete er den Safe und holte eine dicke Akte heraus, in Pappe gebunden. Er schloss den Safe, löschte das Licht, entsorgte noch die durchschnittene Kordel, das Handtuch und das Küchenmesser und ging in sein Schlafzimmer. Dort machte er das Licht an, setzte sich auf das Bett und legte die Akte vorsichtig vor sich hin. Beinahe ängstlich holte er tief Luft und klappte sie auf.
Die Fotografie eines Ölgemäldes, das in einem kleinen Museum in Bulgarien hängt, lag ganz oben. Es zeigte einen Mann Mitte bis Ende 30, der ein edel geschnittenes Gesicht hatte und einen Backenbart trug. Die Augen waren wahrscheinlich dunkelblau, so genau konnte man das auf der Fotografie nicht erkennen. Das Gemälde stammte aus dem späten 15. Jahrhundert und war das einzige Bild, das Tristan von diesem Mann hatte.
Darius.
Seinem Schöpfer.
Seinem Erzfeind.
Den Mann, den er abgrundtief hasste.
Aber war er nicht tot?
Das letzte, was Tristan von ihm hörte war, dass er während des Ersten Weltkrieges bei Verdun zu Tode gekommen sein sollte. Aber es gab schon öfter Berichte über den Tod des Mannes und Tristan hatte auch diesem letzten Bericht nie wirklich geglaubt.
Darius war ein Krieger, wie Tristan. Ist Tristan jedoch ein Mann, dem ein ehrenvoller Kampf mit gleichen Bedingungen für alle Parteien am liebsten war, war Darius das genaue Gegenteil. Er arbeitete mit schmutzigen Tricks, Bauernopfer und scheute sich auch nicht davor, Frauen und Kinder vor Kanonen zu spannen.
Tristan fror plötzlich, wickelte sich in seine Decke.
Das, was heute Nacht geschehen war, würde zu Darius passen. Ein teuflischer Plan, von langer Hand erdacht.
Eine Jungfrau, ausgenutzt, nicht wissend, dass sie in ein Verderben geschickt wird.
Wäre Tristan nicht der beherrschte Stratege, der er nun einmal war, hätte er sich von dem Duft des jungfräulichen Blutes verleiten lassen. Er hätte sie gebissen und ausgesaugt, wahrscheinlich getötet. Oder in der Gier ihr noch gewaltsam die Jungfräulichkeit geraubt.
Aber Tristan hatte noch nie eine Frau mit Gewalt genommen. Die Jungfrauen, die er vor seiner Bekanntschaft mit Rowena hatte, hatten sich ihm freiwillig und ohne jegliche Beeinflussung hingegeben. Er musste ihnen lediglich hinterher die Erinnerung an den Vampir in ihm nehmen, das war alles.
>Das Mädchen ist in Gefahr, ich spüre das. Aber was kann ich tun? Vielleicht irre ich mich ja auch, verrenne mich in meinem alten Hass. Herr im Himmel, hilf’ mir! <
Tristan blätterte die Akte Seite für Seite durch, las jede Zeile gründlich. Vieles war handgeschrieben. Es gab einige alte Zeitungsartikel aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, deren Inhalte Tristan Darius zugeordnet hatte.
„Ich muss mit Rashid reden“, murmelte Tristan müde und rieb sich die Hand über die Stoppeln an seinem Kinn.
Kapitel 5: Lasst Blumen sprechen
Leilani Fischer konnte sich auch zwei Tage nach ihrem Einbruch in die Villa des geheimnisvollen Mannes nicht