Virus. Kristian Isringhaus

Virus - Kristian Isringhaus


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zurück und steckte sich eine Zigarette an. Es gab also einen Toten. Die Polizei brauchte ihn mal wieder. Natürlich. Und wenn die Polizei einen brauchte, dann musste man springen. Klar. Konnten sie denn keinen anderen fragen? Natürlich nicht. In diesem blöden Kaff gab es keinen anderen. Wer war überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, in diesem winzigen Ostseedorf einen G8-Gipfel abzuhalten? Manchen Menschen war wirklich nicht zu helfen.

      Mit einem lauten Missfallensgrunz stand Holger auf und ging unter die Dusche. Jede mögliche Abstellfläche in seiner eigentlich schönen, hellen und großzügig geschnittenen Drei-Zimmer-Wohnung war vollgestellt mit leeren Bierflaschen und vollen Aschenbechern. Er ging nicht mehr viel vor die Tür, doch in Ordnung und Sauberkeit konnte er ebenfalls keinen übergeordneten Sinn ausmachen. Eigentlich war sein Leben – oder das, was man gemeinhin als Leben bezeichnete – längst vorbei. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er erst vierunddreißig Jahre alt war.

      –––––

      Holger ging zu Fuß. Er besaß zwar ein Auto, aber das nutzte er so gut wie nie. In diesem Kaff brauchte man kein Auto. Das Kongresszentrum lag keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt.

      Holger war einer der wenigen Anwohner, die innerhalb des eingezäunten Bereichs wohnten. Angrenzend an das moderne Luxusresort mit seinem Golfplatz gab es eine kleine Siedlung unmittelbar an der Küste, die die Investoren der Anlage am liebsten dem Erdboden gleichgemacht hätten, wogegen sich die Anwohner aber erfolgreich gewehrt hatten. Die Siedlung war ursprünglich einmal ein winziges Fischerdorf gewesen, doch nachdem die Fischerei in der Ostsee mehr und mehr zurück gegangen war und die großen Trawler den kleinen Fischern den Fang streitig gemacht hatten, war die Siedlung zu einer guten, modernen Wohngegend in fantastischer Lage umfunktioniert worden. Der Zaun hatte aufgrund der Nähe der Siedlung zum Hotel diese mit einschließen müssen.

      Als das Resort gebaut wurde, hatte Holger noch aktiv dafür mitgekämpft, dass die Siedlung bestehen bleiben durfte. Damals hatte es noch etwas gegeben, wofür zu kämpfen sich gelohnt hatte. Jetzt im Nachhinein erschien es sinnlos. Hätte er damals nicht gekämpft, wäre er jetzt nicht von einem Zaun eingeschlossen.

      Der kurze Spaziergang tat allerdings gut. Der frische Wind und der Regen in seinem Gesicht halfen ihm, der Schlaftrunkenheit Herr zu werden und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nicht einmal die Kapuze seines Sweatshirts zog er über den Kopf. Zu ruinieren war an seiner Frisur sowieso nichts, denn gekämmt hatte Holger seine halbkurzen dunklen Haare seit Jahren nicht.

      Nach wenigen Minuten erreichte er das Kongresszentrum. Er hatte mit Einigem gerechnet, aber mit so einem Aufmarsch nicht. Feuerwehrfahrzeuge, Mannschaftsbusse der Polizei und unzählige Ambulanzen standen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude und hüllten mit ihren zig Blaulichtern die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Holger warf einen Blick auf die Nummernschilder der Krankentransportwagen. Einige waren sogar aus Rostock angefordert worden.

      Unmittelbar hinter dem Parkplatz verlief der Zaun, belagert von unzähligen Kameraleuten und Journalisten. Letztere besaßen ein hochentwickeltes Sinnesorgan, das dem normalen Erdenbürger nicht zur Verfügung stand. Es nahm Sensationen wahr, noch bevor sie wirklich auftauchten. Die Medienmeute hatte Witterung aufgenommen und kreiste nun wie Geier über einem dinierenden Löwenrudel, in der Hoffnung, dass etwas für sie übrigblieb.

      Noch hinter den Journalisten hatte sich eine ganze Horde von Globalisierungsgegnern eingefunden, die hochmotiviert und mit unerschütterlicher Moral ihre Parolen skandierten. Arme Irre, dachte Holger. Niemand interessierte sich für sie. Keine einzige Kamera war auf sie gerichtet und Politiker waren mit Sicherheit nicht mehr in der Nähe, wenn es einen Toten gegeben hatte. Doch Mitleid hatte Holger nicht mit ihnen. Er hasste dieses Pack.

      Ein Streifenpolizist riss ihn jäh aus seinen Gedanken und brachte ihn wieder in die Realität zurück. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich hatte er ihn mal in der Kirche gesehen.

      „Guten Tag, Herr Pastor”, sagte der Polizist.

       5.

      Im Kongresszentrum herrschte ein babylonisches Chaos. Menschen rannten hektisch durcheinander und ineinander, umkurvten oder verschoben willkürlich herumstehende Krankentransportliegen oder Teile der Saalbestuhlung, stolperten oder standen anderen im Weg. Untermalt wurde die Szenerie von einem beachtlichen Lärmpegel. Um sich verständlich zu machen, musste man brüllen. Feststellungen, Flüche, Fragen, Antworten, Anweisungen und Aufforderungen vermischten sich zu einem einzigen einheitlichen Brei. Dazu lag der beißende Geruch von Verbranntem, Verkohltem und Verschweltem in der Luft.

      Die Mitarbeiter mindestens sechs verschiedener Institutionen gingen hier ihrer Arbeit nach und standen sich gegenseitig im Weg. Da war erstens die Feuerwehr, die den Brand auf der Bühne gelöscht hatte und nun seine Spuren untersuchte.

      Ebenfalls anzutreffen waren die Notärzte und Sanitäter der umliegenden Krankenhäuser, die sich um die vielen Schock-Patienten kümmerten.

      Dazu kamen Mitarbeiter unabhängiger Unfallhilfen wie der Johanniter, die hinzu gerufen worden waren, weil die Krankenhäuser nicht genug Personal zur Verfügung stellen konnten. Unglaublicherweise und obwohl eigentlich alle das gleiche Ziel verfolgen sollten, Leben zu retten, arbeiteten unabhängige Unfallhilfen in Konkurrenz zu einander und zu den Krankenhäusern. Es hatte sogar Fälle gegeben, wo Unfallopfer fast gestorben wären, weil sich verschiedene herbei gerufene Hilfsdienste nicht über die Zuständigkeit einigen konnten. Diese Konkurrenzsituation leistete geflissentlich ihren Beitrag zum Chaos.

      Darüber hinaus waren natürlich das BKA und der BND anwesend. Beide Organisationen waren für die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich, wenn auch auf verschiedenen Gebieten. Während das BKA den Personenschutz leistete und nun zu ergründen hatte, ob die Sicherheit der Politiker in irgendeiner Weise gefährdet war, war es die Aufgabe des BND, nach möglichen terroristischen Hintergründen zu forschen.

      Doch beide Organisationen mussten feststellen, dass es sich schwierig gestaltete, Erkenntnisse zu gewinnen. Unisono berichteten die Zeugen von einem seltsamen Ton und von dem Feuer.

      Der Ton wurde von schrecklich bis wunderschön in allen möglichen Variationen beschrieben. Auch über das Feuer gingen die Meinungen auseinander. Während einige Zeugen von einem einfachen Brand durch den Blitz sprachen, wollten andere Zeichen erkannt haben – brennende Zeichen. Ob ihres Schocks konnten sich allerdings die Wenigsten genau erinnern, was für Symbole dort gestanden hatten. Diverse Zahlen-Buchstaben-Kombinationen wurden genannt.

      Und zu guter Letzt rannte in dem Chaos natürlich auch noch die Kriminalpolizei umher. Sie war einerseits, weil lokal ansässig, für Fragen jeglicher Art zuständig und sollte BKA und BND in jeder erbetenen Form zuarbeiten. Andererseits war die Kripo natürlich für die Ermittlungen zum Tod des Professors verantwortlich.

      –––––

      Peter Wegmann sah das Chaos und malte sich die nächsten Tage aus. Als Hauptkommissar der zuständigen Kriminaldienststelle war er hauptverantwortlich für die Todesermittlungen. Der Gipfel hatte ihn sowieso schon seit einem halben Jahr mit Arbeit überhäuft. Er hatte kaum genug unter den Tisch kehren können, um Überstunden zu vermeiden. So hatte er sich seinen Beruf nicht vorgestellt, als er sich vor Urzeiten an der Polizeischule gemeldet hatte. Oder anfänglich doch? Er wusste es nicht mehr. Wer war überhaupt auf die stumpfsinnige Idee gekommen, den Gipfel in diesem gottverlassenen Kaff auszurichten?

      Zumindest war er mit seinen dreiundfünfzig Jahren erfahren genug, um zu wissen, was jetzt zu tun war. Er musste besonnen handeln. Er musste um jeden Preis verhindern, dass man tiefgreifende Ermittlungen von ihm verlangte und dafür gab es nur eine Lösung. Er ließ seinen Blick schweifen und suchte den leichenschauenden Arzt. Am Bühnenrand wurde er fündig. Der Notarzt war mit dem Ausfüllen des Leichenschauscheins beschäftigt, was bedeutete, dass die Leichenschau bereits vorüber war. Höchste Zeit zu handeln. Er ging zu ihm.

      „Tag, Herr Doktor”, sagte er freundlich. „Wegmann ist mein Name. Hauptkommissar Wegmann. Ich bin für diesen Fall verantwortlich.”

      „Tag, Herr Wegmann. Schubert. Ein schönes Brikett haben Sie da”, gab der Notarzt


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