Brut des Bösen. Mark Savage
Hanlon bis an den Rand des Wahnsinns trieb.
Der Anblick von Jennifers blutüberströmten Körper ließ ihn wimmernd zusammenbrechen. Das tonnenschwere Gefährt hatte das Mädchen mitgeschleift und ihr den Unterkörper vom Bauchnabel an abgetrennt. Ted Hanlon erbrach sich mehrmals hintereinander, bevor sein Denken endgültig aussetzte.
Eine erlösende Ohnmacht überkam ihn und ließ ihn das Entsetzliche für den Moment vergessen.
»Es war meine verdammte Schuld, Mike. Ich hab ihr verboten, sich mit diesem Mark zu treffen, weil ich sie noch zu jung für eine Beziehung hielt. Ich hätte wissen müssen, dass es keinen Sinn haben würde, es ihr zu verbieten. Ich bin Schuld an ihrem Tod, Mike, ich allein.«
Lester Brand hielt den Kopf in die Hände gestützt. Der schwergewichtige Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem dichten, pechschwarzen Haarschopf befand sich in einem Zustand der Verzweiflung und Ratlosigkeit.
Der Schmerz, den er empfand, versuchte er, so weit es ihm möglich war, vor seinem Freund und Schulkollegen aus alten Tagen zu verbergen. Doch Mike Tipton wusste nur zu gut, was in Lester Brand vorging.
»Lester«, redete Mike beruhigend auf ihn ein. »Es gibt keine Eltern auf der Welt, die sagen könnten, was richtig und falsch wäre, was man seinen Kindern verbieten sollte oder nicht. Du schadest dir und Marge nur noch mehr, wenn du jetzt in Selbstvorwürfen versinkst. Die Hauptschuld trifft den Fahrer. Er ist am Steuer eingeschlafen und von der Spur abgekommen. Es hätte auch zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort geschehen können, Lester.«
»Sie wollte nach Hause, bevor ich dahinter komme, dass sie heimlich verschwunden ist, Mike. Deshalb fuhr der Junge um diese Zeit diese Strecke und deshalb hatte er sich so beeilt. Anders wäre sie bei ihm geblieben und es wäre nicht geschehen.«
Lester Brand blieb stur. Er gab sich voll die Verantwortung für das Geschehene.
»Marge braucht deine Hilfe, und die bist du ihr nicht, wenn du sie mit deinen Schuldgefühlen belästigst.«
Im Stillen gestand sich Mike Tipton ein, dass er nicht anders reagiert hätte. Er selbst hatte keine Kinder, aber er vermochte sich sehr wohl in Lester hineinversetzen.
Nur zu gut erinnerte er sich an die Stunden ihrer gemeinsamen Kindheit, in denen er und Lester oft jede freie Minute zusammen verbrachten. Nach der ersten Freundin und der Ausbildung gingen sie dann jeder seinen Weg für sich, aber der Kontakt brach nie ab. Lester wurde ein erfolgreicher Kaufmann, und er, Mike Tipton, brachte es bis zum Inspektor bei Scotland Yard.
Mike wirkte stets jünger, daran hatte sich nichts geändert. Mit seinen fünfundvierzig Jahren sah er immer noch wie ein Mittdreißiger aus, was ihm sein Freund des Öfteren neidisch unter die Nase rieb. Schon in der Teenagerzeit spannte ihm Mike sämtliche Mädchen aus. Die sportliche Figur, die gutgebräunte Haut, die ausdrucksstarken grünblauen Augen und seinen heller Blondschopf, der inzwischen schon an Glanz verlor, kam bei den weiblichen Personen stets besser an als Lesters Metzgernatur.
Doch dies war lange vorbei. Nun saß Lester vor ihm als ein gebrochener Mann. Er hatte sein einziges Kind verloren, und Mike wusste, dass sein Freund dies nie würde überwinden können. Seine Frau Marge lag mit einem schweren Schock und unter Einfluss von Beruhigungsmitteln im Krankenhaus.
Tipton nahm die Aussage des Truckers zu Protokoll, worin der Mann offen und ehrlich zugab, am Steuer eingeschlafen zu sein. Der Blick, der dabei aus seinen Augen sprach, gefiel Mike allerdings ganz und gar nicht. Der bullige, glatzköpfige Mann wurde ebenfalls in die Klinik überwiesen. Mike hatte das Krankenhauspersonal darauf hingewiesen, ihn sorgfältig zu beobachten. Insgeheim rechnete der Inspektor damit, dass dieser sensible Mann früher oder später eine Dummheit begehen könnte. Das Mark ebenfalls eine Mitschuld trug, indem er die Geschwindigkeitsbegrenzung um ein Vielfaches überschritt, interessierte den von Selbstvorwürfen geplagten Mann nur wenig.
»Warum musste dieser verfluchte Kerl am Steuer einschlafen, Mike? Wie kann man nur so verantwortungslos sein? Das grenzt an einen Mordversuch, Mike, und ich möchte, dass du diesen Schuft für das bestrafst, was er uns angetan hat.«
Lester steigerte sich eine Welle voll Ohnmacht und Zorn. Sein Hass half ihm jedoch nicht, den Schmerz erträglicher werden zu lassen.
Mike klärte den Freund über den Zustand des Mannes auf, und er wusste, dass Lester in seiner jetzigen Verfassung der Erregung dies gar nicht zur Kenntnis nahm. Sein Gesicht war gerötet, wie immer wenn ihn der Zorn übermannte.
»Dieser verdammte Mistkerl! Gut, der Junge mag zu schnell gefahren sein, aber er war es nicht, der meine Tochter getötet hat. Das war dieser Ted Hanlon, oder wie das Schwein sich nennt. Er soll beten, dass er mir nie begegnet, dieser elende ...«
»Hör auf«, fiel ihm Mike hart ins Wort. »Du bist nicht besser und nicht schlechter als dieser Ted, Lester. Weißt du noch damals, als du dich mit Louise Miller trafst, nach der dritten Schicht? Du hattest in vierundzwanzig Stunden nicht eine Minute geschlafen, aber Louises Vater ging um diese Zeit zur Arbeit.«
»Ich kenne die Geschichte«, brummte Lester, doch Mike ließ sich nicht beirren.
»Du bist irgendwohin gefahren und hast die Nacht mit ihr im Wagen verbracht. Auf dem Rückweg - du wolltest die Kleine gerade nach Hause fahren - schliefst du am Steuer ein. Der Wagen war Schrott und ihr hattet großes Glück mit ein paar Schrammen davongekommen zu sein.«
»Ich weiß, verdammt noch mal was du sagen willst. Aber dieser Kerl … Mike ... es war mein Kind, meine kleine Jenny, oh Gott.«
Lesters Schultern zuckten. Das Gesicht hielt er in seinen riesigen Händen verborgen.
Mike legte seinem Freund die Arme um die Schultern. Das war im Augenblick alles, was er tun konnte, und er fühlte die Hilflosigkeit, die in ihm aufstieg.
John Rewitt sah mitleidig auf die beiden jungen Menschen, die mit wächsernen Gesichtern, gekleidet in ihre Totenhemden, darauf warteten, zu ihrer letzten Ruhe gebettet zu werden. Der Priester sprach noch einige Gebete für das Paar und schloss daraufhin die Tür der Leichenhalle. Er fuhr angewidert zurück, als die Whiskyfahne des Totengräbers ihm unverhofft entgegenwehte.
»‘n Abend, Vater. Ich habe das Grab jetzt fertig. Ein schönes Doppelgrab, wie Hochwürden befahlen. Wird den beiden bestimmt gefallen.«
Pater Rewitt zog die Augenbrauen hoch und musterte den spindeldürren, verwahrlost aussehenden Mann mit eindeutigen Missfallen.
»Behalten Sie Ihre geschmacklosen Bemerkungen für sich, Ryder. Warum arbeiten Sie eigentlich um diese Zeit und nicht am Tage, wie jeder andere normale Bürger auch? Jeder Mensch, der den Toten auch nur das Geringste Maß an Achtung entgegenbringt, lässt sie um diese Zeit ruhen.«
»Bisher hab’ ich noch keinen aufgeweckt, Pater«, erwiderte die übelriechende Gestalt frech. Das Lachen, das Ryder dabei ausstieß, klang wie das Wehklagen eines sterbenden Ackergauls.
»Bitte vergleichen Sie mich nicht mit einem dieser normalbürgerlichen Stinker dort draußen. Alle haben sie Schiss, wenn es ein bisschen finster wird, haben Angst irgendein übelriechendes, schleimtriefendes Monster würde ihnen den Arsch abbeißen. Nicht so ich, Pater, die Nacht ist mein Zuhause, hier fühle ich mich wohl. Hier kann ich mir in aller Ruhe einen antrinken, ohne dass die Alte Wind davon bekommt.« Seine Worte klangen wie der Sterbegesang einer geschundenen Mähre.
Pater Rewitt schüttelte nur mit dem Kopf und vollführte eine Geste der Hoffnungslosigkeit.
»An Ihrer Seele wird weder die eine noch die andere Seite Vergnügen empfinden. Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Ryder, aber, auch wenn Sie sich Mühe geben dies zu verbergen, kein ganz und gar unrechter Kerl.«
Statt einer Antwort ertönte ein seltsames Knurren, und der Pater lauschte erstaunt.
»Was war das? Haben Sie es auch gehört, Ryder?«
Der Totengräber tippelte von einem Bein auf das andere.
»Ist mir echt unheimlich peinlich, Hochwürden, aber das war mein Magen, oder vielmehr die Hälfte, die noch davon übrig