POLIZEIT-Bericht. Martin Cordemann
„Kennst du dich?“
„Dann sollte ich wohl nicht.“
Bill war schon immer ein schlaues Kerlchen gewesen. Zu schade, dachte der Alte, dass er sich an dieses Gespräch gar nicht erinnerte. Aber so gesehen hatte es ja auch noch nicht stattgefunden, wenn er dem Zeitreiseleiter auf seinem letzten Ausflug Glauben schenken durfte, oder seinem vorletzten, wenn man genau war. Er konnte sich nicht daran erinnern, weil das in einer anderen, was war da der Begriff, Zeitlinie stattgefunden hatte? In seiner ersten Zeitlinie, in der er ein trauriges, deprimierendes Leben geführt hatte, an das er sich kaum noch erinnern konnte. Vielleicht waren das schon die ersten Auswirkungen der Veränderungen, die er bewirkte, bewirken würde und bewirkt haben würde, wenn alles vorbei war. Sein Leben würde sich verändern, vielleicht auch seine Erinnerungen. Vielleicht wurde das ausgelöst durch sein Treffen mit sich selbst, das nie stattgefunden hatte, nun aber stattfand und damit alles veränderte. Was genau das Ziel war, alles zu verändern, sein Leben und seine Erinnerungen. Wenn der Mann mit der Zeitmaschine recht hatte, dann würde genau das passieren. Sein Leben, wie er es geführt hatte, würde ausradiert werden, hätte niemals stattgefunden und an seine Stelle träte das neue, bessere, wunderbare Leben, zu dem er sich gerade die nötigen Zutaten überreichte. Er würde nie dieses alte Leben geführt haben. Das Wort Paradox stand im Raum, oder Paradoxie, je nachdem, mit wem man darüber sprach. Die Zeitreisephilosophen behaupteten, dass sein Verhalten zu einem Paradox führen würde, oder einer Zeitschleife? Irgendetwas, das sich gegenseitig auflösen würde. Er hatte Filme darüber gesehen, aber die schienen auch kein einheitliches Bild davon zu vermitteln. Es bestand die Möglichkeit, sagten diese Philosophen, dass er seine eigene Vergangenheit änderte, darum ging es ihm ja. Das würde, so diese Leute, zur Folge haben, dass er seine Reise durch die Zeit gar nicht erst antrat, weil ja keinerlei Notwendigkeit dazu bestand. Das wiederum würde zu jenem Paradox führen, dass er eben nicht zurückreiste und seine Zeitlinie nicht veränderte, womit alles streng genommen beim Alten blieb und er zurückreiste… Es war verwirrend und unübersichtlich, aber er hatte lange genug darüber nachgedacht, um auch dieses Problem zu umschiffen.
Die Gefahr bestand also darin, dass er nicht zurückreiste und damit die neue, bessere, erfreulichere Zeitlinie gar nicht erst entstand. Also hatte er in seinen Erinnerungen, die er auf sein jüngeres Ich übertragen würde, mit einprogrammiert, dass er diese Reise tun musste, egal, wie gut es ihm ging. Er sollte sich das ganze Treffen so gut wie möglich einprägen, und, selbst wenn er ein phantastisches Leben gehabt hatte, so tun, als wäre es nicht so gewesen. Er musste sich alles so erzählen, wie er es sich gerade erzählte, auf dass die Schöpfung der neuen Zeitlinie auf jeden Fall stattfinden würde. Ergo: Kein Paradox!
„Worüber denkst du nach?“ fragte der junge Bill.
„Das ist… kompliziert.“
Sein jüngeres Ich hatte keine Vorstellung davon, wie kompliziert das alles war. Aber das würde schon noch kommen. Und er, der alte Bill, der deprimierte Bill, würde er weiterleben oder würde er einfach verschwinden? Die Philosophen hatten ihre Vorstellungen davon, aber genau zu wissen schien es niemand. Bill hatte seine eigenen Ideen. Natürlich war es möglich, dass er weiterlebte, aber irgendwie rechnete er nicht damit, wollte es auch eigentlich gar nicht. Wenn er weiterlebte, würden ihm dann seine eigenen Erinnerungen bleiben, die, die er gerne vergessen würde? Oder würden sie ausgetauscht durch die neuen Erinnerungen an ein schönes und wohlhabendes Leben? Würde er nur diese Erinnerungen haben, weil sein jüngeres Ich sie machte? Würden sie neben seinen jetzigen Erinnerungen bestehen oder sie ablösen? Würde er nicht wahnsinnig werden, während sich seine Erinnerungen eine nach der anderen veränderte?
Irgendwie hoffte er, dass es nicht so sein würde. Irgendwie hoffte Bill auf einen Neustart seines Lebens. Das würde nicht bedeuten, dass er sterben würde, es würde nur bedeuten, dass er nicht dieser Bill werden würde, der er jetzt war, sondern ein Bill, der ein tolles und erfülltes Leben geführt hatte. Seine jetzige Persönlichkeit würde verschwinden, aber das war nicht so schlimm, denn er glaubte nicht, dass er sie vermissen würde. Statt dessen würde er ein anderes Leben geführt haben, ein besseres… das war das, was er sich immer wieder einredete und das war der Grund, warum er all das machte.
„Mit dem Gerät erfährst du, was ich weiß“, sagte der Alte und reichte es dem Jungen. Auch das entsprach nur halb der Wahrheit. Die Erinnerungen an sein Leben, die, die Bill durch neue, bessere ersetzen wollte, würde er auslassen. Sein jüngeres Ich würde all das erfahren, was es wissen musste, über die BANK, die Hintergründe, die Recherche und den Aspekt, dass er sich so oder so diesen Besuch abstatten musste, damit die Wirklichkeit auch wirklich die wurde, die er wollte und sein jüngeres Ich wollen würde, wenn er sein Alter erreicht hatte. Das war keine Frage, das war ein Fakt, denn er hatte dieses Alter erreicht und er wollte diese Veränderungen.
„Aha“, meinte der junge Bill nur. War er immer schon so wortkarg gewesen? Offensichtlich.
An dieses Gerät zu kommen war eine weitere Herausforderung gewesen, aber keine große. Eigentlich hatte er dazu nur eine Sache gebraucht, und die brauchte er ohnehin.
„Sie stehen wohl echt auf Zeitreisen?“ hatte der Zeitreiseleiter gefragt, als Bill einmal mehr dessen Firma betrat.
„Hm“, nickte der alte Mann. Er hatte alles an Geld zusammengekratzt, was er hatte, nur um sich diese eine Reise leisten zu können, denn Zeitreisen war ein kostspieliges Unterfangen. Sein letztes Geld steckte in diesem Ausflug und er hoffte, dass es gut angelegt war.
„Wo soll’s denn hingehen?“ hatte der Mann gefragt.
„In eine bessere Zukunft“, hatte Bill geantwortet. Er hatte viel recherchiert, er wusste inzwischen, wie eine Zeitmaschine funktionierte. Und er wusste, wie man einen Mann betäuben konnte. Er tat beides, dann reiste er zu seinem ersten Zielort. Es war ein das DENKSTROM INSTITUT in etwa 200 Jahren. Dort, das hatte er erfahren, gab es die Gedankenübertragungsmaschine. Er musste den Zeitpunkt genau abpassen, denn zwei Jahre nach ihrer Markteinführung wurde sie verboten, weil die Regierung festgestellt hatte, wieviel Schaden man damit anrichten konnte – und wahrscheinlich wollte sie diesen Schaden selbst anrichten. Bill ging zur Bank, hob das Geld von seinem Konto ab, das dort seit 200 Jahren Zinsen abwarf, und kaufte dann den Gedankenüberträger. Das war weit einfacher, als ihn zu stehlen und fast schon ein bisschen schade, aber er hatte einen großen Coup vor, da wollte er vorher nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen. Mit dem Gerät hatte er seine Vorbereitungen abgeschlossen und der nächste Schritt war, sich selbst in den Plan einzuweihen.
„Wow“, staunte der junge Bill und benutzte einen Begriff, der offensichtlich nie aus der Mode gekommen war und selbst in der Literatur der Endzeit aufgefunden werden konnte, wie Alt-Bill dort am Rande mitbekommen hatte. (Ein kleiner Fehler Billerseits, dessen Blick in der Zukunft zwar das Wort „Wow“ gestreift hatte, doch dort galt es als Abkürzung für „World of Worship“, eine religiöse Welt in einem Spiralarm der Vergo-Galaxie – siehe dazu auch „Die WOW-Chroniken“, in denen von fachkundiger Seite beschrieben wird, warum Religionen das Einzig Wahre sind und die leider nicht zuende geführt werden konnte, weil der Autor und alle anderen Bewohner von WOW in einem spektakulären Religionskrieg getötet wurden.) Bill hatte alles auf ihn übertragen, alles, was wichtig war, alles, was er wissen, alles, was er tun musste.
„Das ist erst der Anfang“, meinte der Alte.
„Weil ich das alles ausprobieren soll?“ lächelte der Junge.
„Wir verstehen uns.“
„Mehr als zuvor.“ Der junge Bill lachte. „Ich spüre jeden Schritt, den du gemacht hast“, er kniff die Augen zusammen, „und jeden Fehler.“ Sein Lächeln wurde strahlend. „Deine Knochen sind zu alt dafür. Ich glaube, ich werde weniger Zeit brauchen, als du.“
Alt-Bill hob eine Braue.
„Du glaubst nicht, dass du es ohne Übung schaffst?“
„Nein, denn ich kenne deine Gedanken. Und wie du dich erinnern wirst, hast du früher mal Texte aufgesagt.“
Ehrlich gesagt erinnerte sich Bill nicht daran.
„Und