Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt

Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt


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wenig beneidete er Margotts Bruder. Er war einfach in den Zug gestiegen. Sein Antrag auf Umsiedlung dagegen lag noch immer bei den Behörden, und nach der Ablehnung seiner Bewerbung an der Karl-Marx-Universität würde er sich weiter verzögern, falls man ihn nicht ganz ausschlug. Vielleicht hätte ich nichts vom „Papstschen System der Sprachidentifizierung“ erwähnen sollen. Es musste ihnen dubios erscheinen. Papst war bereit, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm anbot. Angeblich gab es drüben keine Arbeitslosigkeit und ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeit.

      Er war sich im Klaren darüber, dass viele Leute diesen Entschluss belächeln würden. Man würde es als die fixe Idee eines Enttäuschten abtun. Die geläufige Fluchtrichtung war umgekehrt. Das sprach gegen ihn. Selbst mit der Verständnislosigkeit der Einheimischen musste er rechnen.

      Was ihn auf den Gedanken gebracht hatte, war weniger die Aussicht, irgendeine Arbeit zu finden – wenn er sich unter Wert verkaufte, würde es auch hier für einen Mann seiner Fähigkeiten kein unlösbares Problem sein –‚ als der Gedanke, auf etwas hoffen zu können.

      Er wünschte sich mehr Solidarität. Solidarität und Hoffnung …

      Dieser Staat war ein Land ohne Hoffnungen. Wenn er überhaupt auf etwas hoffte, dann darauf, sein Bruttosozialprodukt zu steigern. Eine Perspektive, die auf Dauer nicht befriedigen konnte. Auswanderer hatten zu allen Zeiten ferne Eilande und Kontinente betreten, um unter kläglichen Umständen, die weit unter dem alten Niveau lagen, ein neues Leben anzufangen, und was sie dazu getrieben hatte, war nach seiner Überzeugung weniger Abenteuerlust und pure Not gewesen als die Aussicht auf eine Perspektive und dass es Hoffnungen gab, die sich vielleicht eines Tages erfüllen würden.

      2

      Wenn er seine ältere Schwester auch einige Zeit der „familiären Nekrophilie“ verdächtigt hatte, weil sie ihr Hauptaugenmerk darauf verwandte, sich vorzustellen, welche unheilbaren Krankheiten, welche beinahe tödlichen Unfälle, Querschnittslähmungen und Amputationen sie oder eines der übrigen Familienmitglieder heimsuchen könnten, schätzte er es, abends in ein peinlich sauberes Haus zurückzukehren, in dem kein Schnitzel Papier herumlag, keine schmutzige Tasse auf dem Tisch stand und allenfalls einmal einer dieser grässlichen Köter in die Diele pinkelte, weil niemand sich darum gekümmert hatte, ihn in den Garten zu lassen.

      Die sterile Atmosphäre zwischen Stehlampen und wie unverrückbar dastehenden Lehnstühlen gab Papst das beruhigende Gefühl, irgendwo eine Zuflucht zu besitzen, auch wenn er sich gleich darauf in ihrem Kreise schon wieder als Außenseiter und Heimatloser fühlte – als der närrischen Onkel, der zum Zeitvertreib Worte auf ein Stück Papier kritzelte, um herauszufinden, von wem sie verfasst worden waren.

      Er ging Hedda wenn möglich aus dem Weg. In ihren Augen galt er als notorischer Müßiggänger, der nur deswegen einen so fern liegenden Beruf wie die Sprachwissenschaft gewählt hatte, um ungehindert seinem Laster zu frönen.

      Sie war diabetisch und litt an irrationalen Ängsten.

      Das alles war nach seiner festen Überzeugung ein Ergebnis der Sinnleere, wie sie sich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs zwangsläufig ausbreiten musste, wenn Wohlstand und Ordnung zu Götzen wurden. Eine hagere Frau in den Vierzigern. Jeder ihrer Bekannten hätte geschworen, sich an ihren grauen Haarknoten zu erinnern, obwohl sie seit dem vierzehnten Lebensjahr eine Ponyfrisur trug. Zwischen ihr und dem Haus schien eine geheime Seelenverwandtschaft zu bestehen.

      Je schäbiger es wurde, desto mehr umhegte sie es wie einen Kranken. Sie hing daran, obwohl sie sich mit dem verbliebenen Geld ihres Kontos leicht eine moderne Eigentumswohnung hätte kaufen können, in der keine Außenbretter im Winde quietschten.

      Es war ein mit hell gestrichenen Kirschbaumbrettern verschalter Backsteinbau aus den ersten Jahren des Jahrhunderts; er neigte sich bedenklich dem großen Birnbaum im Garten entgegen, in dem sich alle Katzen der Umgebung ihr miauendes Stelldichein gaben, weil es der sicherste Platz war, um die Hunde herauszufordern.

      Wenn Papst diese ein wenig skurrile Umgebung für kurze Ausflüge verließ, waren es Wege zu den Ämtern.

      Eine Übersiedlung in den Osten schien ihn in den Augen mancher Bürokraten sofort als Agenten zu entlarven.

      Doch auch die andere Seite wusste nichts Neues zu berichten. Sein Antrag werde bearbeitet. Man prüfe die Möglichkeit, ihn in einer Dresdener Kunststoffspinnerei als Bürokraft zu beschäftigen. Später einmal, man könne noch nicht sagen, ob und wann, werde er seinen Fähigkeiten gemäß eingesetzt. (Es sei das Ziel des Sozialismus, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärte der Beamte.)

      Zwei Wochen später war – er nahm an, durch seine wiederholte Nachfrage – aus der Dresdener Kunststoffspinnerei eine Teppichweberei in Wurzen geworden.

      Auch hier prüfe man die Möglichkeit, ihn als Bürokraft einzusetzen.

      Papst wurde das Gefühl nicht los, auf einem Esel zu reiten, der keinen Schritt vorankam, weil er sich als eiserne Statue entpuppte.

      In der Zwischenzeit belegte er das Schuppendach mit Teerpappe. Margotts Tod hatte ein seltsames Nachspiel gefunden. Jemand präsentierte ihm drei unbezahlte Bar-Rechnungen; eine aus der Mond-Bar, die beiden anderen aus dem Chéri. Papst erinnerte sich an keine von beiden. Er achtete nie auf Leuchtreklamen, da er sie für ein Zeichen westlicher Energieverschwendung hielt.

      Es war einjunger Mann mit krausen Locken und gelben Schatten in den Augenhöhlen, einen ganzen Kopf kleiner als er und ziemlich schmächtig. Er sah nicht so aus, als besitze er die Körperkräfte, seiner Forderung gewaltsam Nachdruck zu verleihen.

      „Ist dies Margotts Unterschrift?“, fragte er.

      „Woher soll ich das wissen?“

      Er erinnerte sich nicht, dass Margott jemals ein derartiges Papier unterschrieben hatte. Er hatte überhaupt nichts in seiner Gegenwart unterschrieben.

      „Woher haben Sie eigentlich meine Adresse?“, erkundigte er sich misstrauisch.

      „Manche Clubs fuhren Mitgliederkarten.“

      „Ich besitze keine solche Karte.“

      Margott musste sie in seinem Namen ausgefüllt haben, als er an der Garderobe war.

      „Sie werden im Club aufbewahrt.“

      „So? Na wennschon. Ich kann die Rechnung nicht bezahlen. Sie sehen doch, dass seine Unterschrift auf dem Papier steht. Wenden Sie sich an Margotts Verwandte.“

      „An Ihrem letzten Abend mit Margott, ich meine – als Sie in diesem Haus …“

      „Ja?“

      „Erinnern Sie sich, ob er in der Zeit vor seinem Tod einmal äußerte, verreisen zu wollen?“

      „Verreisen? Nein.“

      „Sprach er nie über seine Arbeit?“

      Papst hatte den Eindruck, der andere sei eher an Margotts Vergangenheit als an der Bezahlung seiner Rechnungen interessiert …

      „Selbst wenn er es getan hätte – warum sollte ich Ihnen darüber Auskunft geben?“

      „Oh ...“ Der junge Mann nestelte verlegen an einem halb abgedrehten Knopf seiner Gummijacke. „Es ist nur – weil Ihr Name auf den Rechnungen steht …“

      „Als Konsument. Ich war eingeladen. Margott unterschrieb.“

      „Immerhin wäre es noch zu klären, wer vor dem Gesetz …“

      Es handelte sich um einen Betrag von vierhundertachtundsechzig Mark, einschließlich Mehrwertsteuer – drei Flaschen Sekt, achtzehn Cognacs und Programm: nicht einmal übertrieben teuer nach Papsts Erfahrungen; aber er würde den Teufel tun, es zu bezahlen. Mehr gab er in einem ganzen Monat nicht an Taschengeld aus.

      „Wenn ich Sie recht verstehe, dreht es sich um ein Geschäft? Auskunft gegen Margotts Schulden? Er hat schon eine Weile auf bloße Zahlungsversprechen hin in den Clubs


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