Eine von den Vermissten. Harry Peh
nur noch eine Zigarette, die letzte, vielleicht die, die sie später in der Hand halten werden. Wir fahren mit dem Fahrstuhl nach unten. Die beiden Schwestern sehen an mir vorbei oder nach unten. Sie sind erheblich jünger als ich und wissen nicht, wie sie sich anders verhalten sollen. Das ist okay. Obwohl sie bestimmt tausend Mal den Fahrstuhl benutzt haben, kommt ihnen der Weg sicherlich länger vor als mir. Unendlich lang und unendlich unangenehm.
Als wir im pathologischen Bereich ankommen, beschleunigt sich noch nicht einmal mein Puls. Das nehme ich mir einen Moment lang übel. Ich bleibe stehen und möchte einen Moment ausruhen. Die beiden missinterpretieren mein Zögern als Vorboten eines Zusammenbruchs. Die eine holt ein Taschentuch heraus, die andere ein Handy. Eine Tür öffnet sich und ein Mann im weißen Kittel stellt sich als Dr. sowieso vor. Er fragt mich nach meinem Namen und wo mein Mann sei. Ich nenne ihm den Namen meiner Tochter und sage, dass ich keine Ahnung hätte, wo mein Mann ist. Er sieht mich etwas verdutzt an und bittet mich in sein Büro. Die Schwestern entlässt er mit einer routinierten Handbewegung.
Wir stehen in einem Vorraum, einer Art Büro. Ich nehme an, er will mich auf die Begegnung mit meinem Kind vorbereiten. Aber das ist unnötig. Ich bin vorbereitet. Er führt mich also in einen Raum, der recht groß ist. Es ist kühl und hell. Sehr hell, ja extrem hell. Ich bitte ihn, das Licht zu löschen oder zumindest herunterzufahren. Er löscht Teile der Neonbeleuchtung. Ich empfinde es als erheblich angenehmer, während er meint, es sei zu dunkel. Er führt mich in die Tiefe des Raumes zu einem Bett, einer Bahre oder einem Metallgestell. Etwas hektisch tritt der Arzt an das Gestell heran; es scheppert durch den ganzen Raum und der Hall des Schepperns geht durch mein Gehirn an alle vier Wände zurück und von dort auf das Bett, durch Mark und Bein desjenigen, der darunter liegt, meine Tochter, und wieder zurück. Und so zehn Mal, hundert Mal, eine Million Mal und unendlich weiter. Eine unendliche Spiegelung oder ein Perpetuum mobile. Mit einer Hand greift er nach mir und mit der anderen hält er das silberglänzende Metall der Bahre. Er steht am Kopfende, nickt mir zu und hebt das weiße Laken auf die Brust meines Mädchens, so dass ihr Gesicht zum Vorschein kommt. Doch es ist nicht Maria. Es ist nicht mein Mädchen. Für einen Moment weiß ich nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht bin. Denn obwohl dort nicht mein Kind tot vor mir liegt, weicht diese unauslöschbare Gewissheit, dieser lähmende Druck nicht von mir. Irgendein anderes armes Kind, ermordet und was weiß ich noch alles, liegt dort. Sie sieht eigentlich ganz normal aus. Als würde sie schlafen. Ich kann nichts Ungewöhnliches an ihr erkennen. Keine Verletzung, keine Tränen, keinen Kummer, nichts Außergewöhnliches. Ich sehe sie mir genauer an. Irgendetwas muss doch an ihr sein. Ich laufe um die Bahre herum. Einmal, zweimal. Ich habe so etwas im Fernsehen gesehen. Wenn Mütter vor ihren toten Kindern zusammenbrechen, Weinkrämpfe bekommen, das Kind aus seinem zu langen Schlaf erwecken wollen. Ich kann nichts dergleichen. Ich laufe nur um die Bahre herum und möchte eigentlich nur ein Zeichen, eine Begründung für ihren Tod bekommen. Ein einziges Zeichen nur! Der Arzt will das Laken wieder über ihren Kopf ziehen. Eine einzige schnelle Handbewegung von mir lässt ihn innehalten. Ich ziehe das Laken ganz von ihr weg. Und lasse es einfach zu Boden gleiten. Da liegt sie nun vor mir, ganz und gar nackt, und ich kann immer noch nichts erkennen. "Das ist nicht meine Tochter" sage ich ihm und deute ihm, mich hinaus zu begleiten.
"Sehen Sie sich bitte Ihr Kind genauer an. Es ist Ihre Tochter."
Ich sehe ihn an. Was soll das ganze? Dort liegt irgendein armes Geschöpf auf der Bahre. Aber es handelt sich nicht um meine Tochter. "Ich sage Ihnen noch einmal: Dieses Kind ist nicht Maria."
"Vielleicht hätte Ihr Ehemann doch besser gleich mitkommen sollen. Mütter neigen in ihrem Schmerz zu Verdrängungsmechanismen. Wir kennen das."
"Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz. Was wollen Sie von mir?"
"Ich möchte, dass Sie der Wahrheit ins Gesicht sehen und Ihre Tochter identifizieren."
"Das da ist nicht mein Kind."
"Oh, doch."
"Nein."
"Sehen Sie nochmal genauer hin. Dann erkennen Sie Ihren Irrtum."
"Meinen Irrtum? Was soll das? Ich möchte jetzt gehen. Und Sie sollten sich lieber um die wahren Eltern des Kindes kümmern."
"Bitte beruhigen Sie sich. Wir kümmern uns schon um Sie. Aber immer schön der Reihe nach. Erst die Unterschrift, dann die Betreuung."
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