Joseph. Johannes Wierz

Joseph - Johannes Wierz


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mit einer großen Schar Frauen aus einem Dorf nahe Prijedor in Zentral-Bosnien zu Fuß aufgebrochen, um die Gräber ihrer erschossenen Männer zu finden. Eine Suche, die von den zuständigen europäischen Behörden nach einem halben Jahr eingestellt worden war, weil sie als hoffnungslos galt. Drei Tage war Gabriel mit den Bosnierinnen scheinbar ziellos durch die unwegsame Gegend geirrt, bis eine der Frauen auf einem Feld plötzlich angefangen hatte, laut zu schreien. Sofort hatten die anderen vom Krieg gezeichneten Dorfbewohnerinnen in ihr Wehgeschrei mit eingestimmt. Gabriel hatte damals persönlich die Ausgrabungsarbeiten geleitet und war gemeinsam mit seinen Mitarbeitern schnell fündig geworden. Ein Grab, aus dem sie sechsundachtzig männliche Leichen hatten bergen müssen.

      Allein der Gedanke an Massengräber jagte David kalte Schauer über den Rücken.

      „Gabriel“, flüsterte er, „wo bist du?“

      Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Schon spürte er wieder dieses Kribbeln, als würde jemand direkt hinter ihm stehen. Aber da war niemand. Alles Einbildung, nicht mehr und nicht weniger. David streckte die Arme aus und griff mehrfach ins Leere. Nein, da war wirklich nichts. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Bis zum Waldrand konnte er die leere Wiese erkennen.

      „Gabriel?“

      David stand auf. Ihm wurde die Sache langsam zu dumm.

      „Und, spürst du was“, flüsterte Gabriel ihm ins Ohr, der plötzlich wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war.

      David zeigte mit seiner Hand in die Dunkelheit.

      „Da, da! Ich habe das Gefühl, als ob da jemand stände. Aber da ist niemand.“

      „Bleib so!“

      Gabriel streckte seinen Arm parallel zu Davids aus. Eine Stabtaschenlampe blitzte auf und richtete ihren Lichtkegel direkt auf das Eisengitter des Wegkreuzes.

      Langsam gingen die beiden darauf zu. Nichts hatte sich dort verändert. Die abgebrannte Kerze in der schwarzen Schale, die verwelkten Wiesenblumen im Würstchenglas, alles stand noch an seinem Platz.

      Gabriel stellte seinen Rucksack auf den Boden und holte einen Akkuschrauber heraus. In Sekundenschnelle löste er geschickt die Schrauben des Eisengitters. Vorsichtig nahm er es ab und reichte es zusammen mit der Stabtaschenlampe an David weiter.

      „Ich habe es geahnt“, flüsterte Gabriel, stellte die abgebrannte Kerze beiseite und nahm vorsichtig die Schale heraus. Mit einem skalpellähnlichen kleinen Messer kratzte er vorsichtig an der schwarzen Lackierung. Was da im Schein der Stabtaschenlampe unter der Farbe hervorkam, war ein Knochen. Von der Form her war es auch diesmal ein Leichtes, ihn zu bestimmen. Kein Zweifel, es handelte sich um das Becken eines Menschen.

      Ungläubig starrte David auf das lackierte Skelettteil und schaute zu, wie Gabriel mit dem kleinen Messer ein winziges Stück Knochen abschabte und es in einer kleinen Plastikdose verschwinden ließ.

      „Wir müssen einen Abdruck machen“, erklärte er kurz, „in deinem Rucksack ist alles, was wir dafür brauchen.“

      David holte die Schalen, die zwei Komponentenpulver und einen Wasserkanister aus seinem Rucksack.

      Gabriel begann sofort damit, das weiße Pulver mit der Flüssigkeit zu verbinden. Während sie die chemische Reaktion beobachteten, schwante ihnen beiden, dass sie in dieser Nacht höchstwahrscheinlich noch mehrmals fündig werden würden.

      Ein Kreuzweg hat normalerweise vierzehn Stationen, kalkulierte David im Stillen. Unmöglich, das in einer Nacht zu schaffen.

      Gabriel tauchte bereits das schwarzlackierte Becken in den flüssigen Kautschuk.

      David schulterte unterdessen den Rucksack seines Freundes und wollte schon zur nächsten Station aufbrechen, da hielt ihn Gabriel zurück.

      „Das machen wir morgen bei Tag“, erklärte er entschlossen. „Ich habe da nämlich ein neues Gerät, das erleichtert unsere Arbeit ungemein.“

      Dann begann er, sich genüsslich eine Zigarette zu drehen und machte es sich im Gras bequem.

      „Drehst du mir auch eine?“ fragte David und setzte sich neben ihn.

      Gabriel schaute ein wenig irritiert, hatte er David doch, solange er ihn kannte, nie rauchen gesehen. Und weiß Gott, sie hatten gemeinsam grauseligere Funde als diesen hier erlebt.

      „Ich habe dein Dossier über die Zigarettenkippe gelesen“, sagte David leise und nahm einen ersten zaghaften Zug, „eine original Schweizer Davidoff, deren Filter abgebrochen worden ist, richtig?“ Gabriel nickte und blies Rauchkringel in die Nachtluft.

      „Richtig!“

      „Ich kenne nur einen, mit so einer Marotte“, sinnierte David und zögerte. Gabriel führte seinen Gedanken zu Ende:

      „Ich weiß, dein Vater, aber der ist schon seit vierzig Jahren tot. Aber keine Sorge, wir werden alles herausfinden, dafür bin ich schließlich da.“

      Schweigend saßen die beiden in der Wiese und warteten darauf, dass sich die Gummiform festigte.

      Das Archiv des Vaters wies eklatante Lücken auf. Das war David sofort aufgefallen, als er einen Tag nach seiner Ankunft in den Keller gestiegen war. Der oder diejenigen, die all die Akten, Filmrollen, Kontaktabzüge und Zeitungsausschnitte entwendet hatten, mussten sich ihrer Sache ziemlich sicher gewesen sein und gezielt gesucht haben. Sie hatten sich zumindest nicht die Mühe gemacht, Lücken in den Regalen zu schließen oder überhaupt Spuren zu verwischen. Vor allem die Bilder und Unterlagen aus Johnny Engels Frankfurter Zeit waren verschwunden. Mit der Geschichte von Rosemarie Nitribitt hätte er gern sein Buch über den Vater begonnen: Wirtschaftswunder. Es geht wieder aufwärts in Deutschland, und mitten drin diese Frau. Welche Rolle hatte sie gespielt? Und in welchem Zusammenhang hatte sie zu seinem Vater gestanden? Mit eben diesen Fragen müsste er das Buch beginnen und es in den Fluten der Hamburger Sturmflut von 1962, kurz nach seiner Geburt enden lassen. Zum Glück hatte er bei seinen letzten Besuchen immer wieder Unterlagen eingescannt und auf seinen Laptop geladen. Aber das übrig gebliebene Material waren Fragmente, die niemals ausreichen würden, um eine fundierte Geschichte zu beginnen. An die zweihundert Aktenordner, in denen Kopien von Frankfurter Prozessprotokollen abgeheftet waren, fehlten komplett. Ähnlich verhielt es sich mit den Bildern vom Frankfurter Leichenschauhaus und den unzähligen Beerdigungsbildern, auf denen eine Unzahl von Trauergästen abgebildet war. Fünfziger Jahre, das konnte er einordnen. Aber welches Jahr, welcher Tag und um wessen Beerdigung handelte es sich überhaupt?

      David nahm sich vor, zumindest auch noch die restlichen Unterlagen zu dieser Sache einzuscannen. Ob er alles einordnen konnte oder nicht - die gigantische Anzahl an Bildern und Negativen galt es zu sichern. Dann konnte man in Ruhe weitersehen.

      Natürlich hatte er die Mutter zur Rede gestellt. Gleich nach der Entdeckung. Und was hatte sie gemacht? Ihm eine weitere Lüge aufgetischt. Mit der üblichen Nonchalance, die ihn so ärgerte, weil sie ihn einmal mehr für dumm verkaufte.

      „Ein Museum interessiert sich für den Nachlass deines Vaters“, hatte sie achtlos gesagt und nicht einmal von ihrem Buch aufgeschaut. „Er hat mit seinen Bildern Geschichte dokumentiert, Zeitgeschichte. Es war längst an der Zeit, dass das Werk deines Vaters angemessen gewürdigt wird.“

      Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, hatte sie noch eine ihrer üblichen Nörgeleien nachgesetzt:

      „Du und dein Buch. Wie lange schiebst Du es schon vor dir her, ein Buch über deinen Vater zu schreiben?“

      Es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie ihn damit getroffen hatte. Er war stumm und ihr eine Antwort schuldig geblieben. Tausend Dinge gingen ihm seither durch den Kopf.

      Die letzten zehn Jahre waren wie im Fluge vergangen. Von wirklicher Selbstbestimmung keine Spur. Seine Ehe war daran gescheitert, und von einem innigen Verhältnis zu seiner Mutter konnte man auch nicht gerade sprechen. Eigentlich war er sich auch heute noch selbst genug. Es gab einfach so viele Dinge, die ihn interessierten, fesselten. Mehr als genug für ein Leben.

      Als er damals wortlos


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