Indische Reisen. Ludwig Witzani
der größten Städte Asiens, und die Temperaturen liegen über 45 Grad. Panik und Platzangst. Was will ich eigentlich hier?
Der Mond scheint durch die Palmendächer, die sich im sachten Nachtwind wiegen. Schwarz kräuselt sich die Brandung am Ufer wie eine unruhige Schlange. Ein leises Rauschen ist zu hören, sonst ist es still. Ich lege meine Füße auf die Brüstung und blicke in die Dunkelheit. Allein mit einer Minute des Glücks.
Erschütterung, Panik, Platzangst und Glück – das sind nur einige der Gefühle, die Indien unweigerlich erzeugt, wenn man das Land alleine und auf sich selbst gestellt bereist. Die Empfindungen, die den Reisenden dabei bedrängen, sind umfassender, direkter, erfüllender als in fast allen anderen Regionen der Erde. Indien verwandelt jeden, der sich ihm wirklich zu nähern versucht, in einen Resonanzraum, in dem sich Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit auf eine neuartige Weise verbinden – peinigend, verändernd, furchterregend und beglückend zugleich. Indien ist kein Reiseland. Indien ist eine Passion.
Ich bin dieser Passion mein Leben lang gefolgt, sooft und wann immer ich konnte. Von den Quellen des Ganges im Norden bis Kap Komorin im Süden, von Gujarat im Westen bis zu den Sunderbans im Osten bin ich an der Seite der Einheimischen mit Bussen und Bahnen durch Indien gereist. Oft war ich glücklich, oft war ich einsam, aber niemals war ich alleine. In den unzähligen Hostels, die den Subkontinent überziehen, fanden sich immer andere Individualreisende, mit denen man sich austauschen oder sogar eine Zeit lang gemeinsam reisen konnte. Oft traf ich auch auf schräge Vögel, doch viele der Backpacker, denen ich in Bussen und Bahnen begegnete, waren imponierende Reisegestalten, die Lord Byrons Diktum zu folgen schienen, nach dem das Reisen eine intensivere Form des Lebens ist. In noch viel stärkerem Maße gilt das für die unübersehbare Zahl von Gujaratis, Bengalis, Tamilen, Punjabis, Kaschmiris und allen anderen, mit denen ich einen Teil meiner Reisezeit verbrachte und denen ich den größten Teil dessen verdanke, was ich über dieses Land weiß.
Ihnen widme ich dieses Buch – und natürlich allen Indiennovizen, die mehr über dieses Land erfahren möchten.
Die Darstellung dieses Reisebuches verfährt nicht chronologisch, auch wenn das erste Kapitel, Heiligabend in Delhi, noch aus dem letzten Jahrhundert stammt und das letzte Kapitel über die Kumbh Mela aktuell ist. Es kam mir vielmehr darauf an, dem Leser, der den Kapiteln dieses Buches folgt, auf eine gesamtindische Reise mitzunehmen, auf der er on a shoestring alle wesentlichen Regionen des Landes nacheinander kennenlernen kann - wenngleich die einzelnen Kapitel auch für sich gelesen werden können. In vielen Orten, die in diesem Buch beschrieben werden, war ich mehrfach unterwegs, manche Routen habe ich auch andersherum bereist, manchmal wurden die Erfahrungen der ersten Reise durch die Erlebnisse einer zweiten Reise verdichtet. Nur ganz selten habe ich, wenn es zu persönlich wurde, die Namen von Personen oder Guesthäusern verändert. Einer persönlichen Schwäche für die Geschichte folgend habe ich, wo immer ich konnte, die Tempel und Monumente besucht und mich redlich bemüht, das, was ich sah, auch zu verstehen.
Dass alle meine Betrachtungen und Wertungen subjektiv gefärbt sind, versteht sich von selbst – andernfalls wäre das Buch eine reine Landeskunde. Zur Vollständigkeit dieser Einleitung gehört auch der Hinweis, dass ein Teil der Texte in gekürzten Formaten bereits als Reiseberichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT, der Süddeutschen Zeitung oder anderen Periodika erschienen sind.
Ein Glossar am Ende des Buches mag das Verständnis mancher Details erleichtern. Dort finden sich auch einige Hinweise für diejenigen, die sich Indien nicht nur auf den Pritschen einer Eisenbahn, sondern auch im Lesesessel nähern wollen.
Nichts, was jemals über Indien gesagt oder geschrieben wird, kann ganz vollständig oder ganz richtig sein. So verhält es sich selbstverständlich auch mit diesem Buch, denn auch jenseits der hier beschriebenen indischen Reisen gibt es noch jede Menge zu entdecken.
Bharat Darshan, die Begegnung mit Indien, ist niemals zu Ende.
Aber irgendwann fängt sie an, und bei mir war das an einem Heiligabend in Indien...
II Statt einer Einleitung - Heiligabend in Delhi
oder: Der erste Tag in Indien
Liebeskummer kommt immer zur falschen Zeit, aber wenn er dich in der Weihnachtszeit ergreift, bist du hinüber. So erging es mir, Gott seis geklagt, in jenem Dezember. Eine Woge der Behaglichkeit ergoss sich über die westliche Zivilisation, und ich war allein. So erwarb ich kurzerhand ein Ticket in die exotischste Region, die ich mir damals überhaupt vorstellen konnte, packte meinen Rucksack und flog nach Delhi. Indien sollte mich heilen, dachte ich damals zum ersten Mal, ohne zu wissen, wie oft ich diese Medizin noch würde nehmen müssen.
Dass sich schon am Flughafen von Delhi zerlumpte Elendsgestalten um die Shuttle-Busse versammelten und den Passanten ihre Prothesen oder Armstümpfe wie Monstranzen entgegenhielten, hätte mir eine Warnung sein müssen. Mit dieser Stadt war etwas anders als mit allen anderen Städten, die ich bislang gesehen hatte - das merkte ich schon während der Busfahrt in die Stadt, als ich unfreiwillig zum Augenzeugen dafür wurde, wie eine indische Megalopolis erwacht.
Zuerst sah ich nur Feuerstellen an den Straßenrändern und zusammengekrümmte Gestalten im Halbschatten, die auf der nackten Erde schliefen. Dann kroch das erste fahle Morgenlicht durch die Straßenschluchten. Abertausende von Obdachlosen auf den Bürgersteinen und in den Hauseingängen erwachten, begannen sich zu rekeln, zu rauchen, zu schwatzen und schließlich wie auf ein geheimes Kommando tausendfach gegen die Häuserwände zu pinkeln. Mit dem zunehmenden Tageslicht schien sich die Bevölkerung der Stadt dann unvermittelt zu potenzieren: Männer, Frauen, Kinder, Kühe und Affen quollen in frappierender Plötzlichkeit wie aus unterirdischen Höhlen auf die öffentlichen Plätze, Rikschafahrer rasten durch die Menge, Lastwagen hupten, Busbremsen quietschten; der indische Tag war erwacht, und ein würziges Aroma von Smog und Unrat legte sich wie eine Glocke über die Stadt.
"Ringos Guesthouse", die Unterkunft, in der ich einchecken wollte, hatte noch geschlossen, und so ging ich ein wenig durch die Straßen, um zu sehen, was sich weiter ereignen würde. Der Muezzin und der Tempelbrahmane schlurften heran und öffneten Moschee und Tempel. Die Milch für den Tschai wurde auf Eselkarren herangekarrt, und ohne irgendwelche Hintergedanken probierte ich eine Tasse dieses süßen und heißen Getränkes, nach dem ich später geradezu süchtig werden sollte.
Endlich öffnete das Guesthouse, ein verschlafener junger Inder, der einen dicken Schal um den Kopf gebunden trug, als litte er unter Zahnschmerzen, zeigte mir den Weg in den ersten Stock. Generatoren rappelten, weil der Strom ausgefallen war, und alle Duschen waren eingefroren. Es hatte mich in eine Mischung aus Kaserne und Obdachlosenasyl verschlagen, und der Anblick meines Zimmers gab mir den Rest. Ein Hocker, ein Rost, eine dünne Matratze, aber weder eine Decke noch ein Fenster - das war alles.
Als ich den Innenhof von Ringos Guesthouse betrat, saßen schon die ersten Mitglieder der internationalen Backpackergemeinde halb bekifft um einen kümmerlichen Tisch im Hof und diskutierten über die optimalen Bezugsquellen für Hasch und Marihuana. Kellner und Köche servierten kalte Nudelgerichte, eine junge Engländerin, der Indien ganz offensichtlich über das Maß ihrer Kräfte hinaus zugesetzt hatte, saß bewegungslos auf einem Stuhl, während ein badischer Elektriker, der in Stuttgart alles geschmissen hatte, offensichtlich auf Turkey war. Zappelnd wie ein Zitteraal wackelte er auf seinem Stuhl herum und quittierte jeden an ihn gerichteten Satz mit den Worten "Not for me, man, not for me".
Das war der Augenblick, in dem ich mir an meinem ersten Indientag die Frage stellte: War das wirklich eine so gute Idee gewesen, vor meinem Kummer an Heiligabend nach Delhi zu fliehen? Mir stand doch der Sinn nach malerischen Wüstenstädten, wunderbaren Stränden und weltabgelegenen Klöstern, kurz: nach jener Schönheit und Verzauberung, die meine Seele heilen sollte. Was sollte ich in diesem Moloch, der schon nach wenigen Stunden an meinen Nerven zehrte? Warum bin ich nicht gleich nach Goa gefahren, wo es doch alles so herrlich entspannt abgehen soll? Warum saß ich jetzt nicht am Ufer des