Etwas ist immer. Ben Worthmann
nächtigen. Manchmal schlich ich mich spätabends heimlich hinein, um mir Sendungen anzusehen, die mich interessierten, Boxkämpfe mit Muhammed Ali beispielsweise oder dramatische Fernsehspiele, die als künstlerisch wertvoll galten und hin und wieder ein paar gewagte Lichtblicke verhießen – einen weiblichen Brustansatz unter einem spitzenbedeckten Unterrock etwa oder ein bis zum Oberschenkel entblößtes Bein. Früher hatten die Pfarrer von der Kanzel gegen derlei Verwerflichkeiten gewettert, mein Großvater ebenfalls. Später, als meine Großmutter nicht mehr lebte, saß er allerdings selbst ganz gern bis tief in die Nacht vor dem Fernseher und machte einen bemerkenswert gleichgültigen, um nicht zu sagen aufgeschlossenen Eindruck, wenn die Hüllen fielen.
Meine Großmutter las auch heimlich Illustrierte schon zu Zeiten, da sie in den Augen meines Großvaters ebenso verpönt waren wie frivole Fernsehspiele. Tagsüber hielt sie die Schundblätter wie „Quick“ oder „Stern“ unter dem Bettzeug versteckt. Sie hatte ein großes Herz. Einmal, auf einer Familienfeier, sah ich sie sogar eine Zigarette rauchen. „Nur so zum Spaß“, sagte sie und paffte drauflos wie eine alte Squaw. Sie half mir oft mit dem Taschengeld aus, und wenn ich an den Wochenenden zu spät nach Hause kam, brauchte ich nur ans Wohnzimmerfenster zu klopfen und sie machte mir diskret die Haustür auf, schon um ihrem Mann eins auszuwischen, der sich nur allzu gern darüber aufgeregt hätte, dass sein sechzehnjähriger Enkel, langhaarig und angetrunken, erst nach Mitternacht heimkehrte.
Man musste kein Psychologe sein, um klar zu erkennen, dass meine Großmutter ihren Mann nicht ausstehen konnte. So sehr sie ihre Kinder liebte, so wenig hielt sie von demjenigen, der ja immerhin seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass es diesen Nachwuchs gab. Ich fragte mich oft, wie die beiden es überhaupt zu Wege gebracht haben mochten, Kinder in die Welt zu setzen. Die meisten Menschen empfinden bekanntlich eine Hemmung davor, sich ihre Eltern beim Sex vorzustellen. Was meine diesbezüglichen Mutmaßungen über meine Großeltern angeht, so kann ich nur sagen, dass entsprechende Vorstellungen mit ihnen als Akteuren schlicht und einfach meine Fantasie überforderten.
Mit der Ehe meiner Eltern war es noch wieder anders. Sie endete viel zu früh und zu plötzlich, als dass ich Gelegenheit gefunden hätte, mir über sie Gedanken zu machen. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, als ich noch sehr klein war und gar nicht begriff, was da eigentlich geschehen war. Er verschwand einfach von einem auf den anderen Tag aus meinem jungen Leben. Ich empfand das als nicht sehr freundlich, ohne es ihm allerdings regelrecht übel zu nehmen, denn mir war trotz meiner sehr jungen Jahre klar, dass man es niemandem zum Vorwurf machen konnte, wenn er „plötzlich und unerwartet“, wie es in solchen Fällen heißt, an einem Herzinfarkt stirbt.
Gesehen habe ich damals meinen Vater als Toten nicht. Ich hatte bisher, genau genommen, überhaupt noch nie einen Toten bewusst und aus nächster Nähe gesehen, fiel mir jetzt ein, als ich das Schlafzimmer meines Großvaters betrat. Einmal, als junger Lokalreporter, hatte ich über einen Unfall berichten müssen, bei dem es eine Brandleiche gab. Ein Tankzug war gegen ein Haus gerast und explodiert, und man zeigte uns etwas Verkohltes, das wie ein morscher Baumstamm aussah und bei dem es sich angeblich um den Fahrer handelte. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Aber ich brachte es letzten Endes nicht über mich, dieses schwarze Ding ernsthaft als Leiche wahrzunehmen. Und bei den Unfällen auf der Straße vor unserem Haus hatten uns die Erwachsenen nie nahe genug herangelassen, um einen Schwerverletzten oder gar eine Leiche wirklich in Augenschein nehmen zu können.
Mein Großvater war mithin der erste reale Tote in meinem Leben, dem ich sozusagen leibhaftig gegenüberstand.
Kapitel 7
„Er lag ganz ruhig und völlig regungslos da“, erzählte ich Anna, „aber nicht so, als ob er schliefe. Es stimmt einfach nicht, wenn die Leute über einen Toten sagen: Er lag da wie ein Schlafender. Es ist anders. Der Tod macht den Menschen...irgendwie...zu einem Gegenstand, friedlich, das ja, aber ganz und gar leer.“
„Hör bitte auf damit“, sagte Anna. „Du weißt, ich kann so etwas nicht gut hören.“
Meinst du vielleicht, ich hätte das gut ansehen können – lag es mir auf der Zunge zu erwidern –, wie er da starr und steif hingestreckt auf dem Bett lag? Dann kamen zwei Männer vom Beerdigungsinstitut und und legten ihn in den Sarg. Er war hart wie ein Brett. Sie schlangen einen Lederriemen um seinen Körper, um ihn besser heben zu können. Sie banden ihm ein Tuch um den Unterkiefer und verknoteten es auf dem Kopf, so wie man das früher machte, wenn man Zahnschmerzen hatte. Die beiden Männer verrichteten ihre Arbeit mit der abgestumpften Routine von Handwerkern, die eine Wasseruhr reparieren oder eine Fensterscheibe einsetzen. Als der Sarg, Fußende voraus, durch die Tür bugsiert wurde, stellten die Nachbarn ihre Gläser ab und bildeten ein Spalier. Die Leute vom Bestattungsinstitut sagten, bei dem warmen Wetter hätten sie ihn kaum eine Stunde länger im Haus lassen können.
Ich sagte zu Anna: „Die Beerdigung ist am Mittwoch. Ich werde mir freinehmen müssen. Die Kinder können wir sicher mal einen Tag aus der Schule lassen.“
„Dieter hat übrigens angerufen“, sagte sie. „Du sollst morgen zum Sonntagsdienst in die Redaktion kommen.“
„Was ist denn das nur für ein Unfug“, sagte ich. „Ich hatte doch gerade erst letztes Wochenende Dienst. Oh Gott, was habe ich nur verbrochen, dass ich in diesem Scheißladen arbeiten muss. Die kriegen auch gar nichts geregelt. Na, dem werde ich was erzählen.“
Ich griff zum Telefon.
„Hör mal“, sagte ich, „was soll denn das nun wieder? Muss denn das sein? Wir haben gerade einen Todesfall in der Familie. Mein Großvater ist gestorben, und wo wir gerade dabei sind, am Mittwoch brauche ich einen freien Tag, weil ich zur Beerdigung muss.“
„Dann wirst du doch morgen ein paar Stunden arbeiten können“, entgegnete Dieter ungerührt. „Rolf ist nämlich ausgefallen, er liegt im Krankenhaus, und du weißt doch, dass wir eine gewisse Mindestbesetzung brauchen, um mit Anstand das Blatt machen zu können.“
Ich sah keine Veranlassung, mich zu rechtfertigen. Trotzdem tat ich es.
„Mein Großvater war nicht einfach nur mein Großvater“, sagte ich und schämte mich dabei für meine Heuchelei, jedenfalls ein bisschen. „Er war eine Art zweiter Vater für mich...Wieso liegt Rolf denn eigentlich im Krankenhaus?“
„Er bekam plötzlich keine Luft mehr und hatte hohes Fieber. Es ist eine Art Lungenzusammenbruch, der eine Flügel hat schlappgemacht. So hat es mir jedenfalls seine Frau erklärt. Sag mal, du hattest doch gerade gestern erst einen freien Tag.“
„Ich hatte dir doch gesagt, dass wir zum Architekten mussten.“
„Wisst ihr auch wirklich, auf was ihr euch da einlasst?“, fragte Dieter, in seiner Stimme lag jetzt echte Anteilnahme. „Sag mir später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
„Was ist denn jetzt mit morgen?“, fragte ich.
„Wenn es gar nicht anders geht, müssen wir halt ohne dich auskommen“, sagte er. „Hast du schon was unterschrieben?“
„Ganz so weit sind wir noch nicht“, erwiderte ich, und nachdem ich aufgelegt hatte, sagte ich zu Anna: „So, das hätten wir abgewendet. Ich weiß gar nicht, was in den Dieter gefahren ist, wenn er sich manchmal derartig als Ressortleiter aufspielt.“
„Er ist es ja schließlich“, meinte sie, und wenn sie noch hinzugefügt hätte „im Gegensatz zu dir“, wäre das mit einiger Sicherheit der Auftakt zu einem kleinen Scharmützel gewesen. Sie konnte es einfach nicht lassen, mir von Zeit zu Zeit vorzuhalten, ich kümmere mich nicht genug um meine Karriere. Diese Auseinandersetzungen gingen nie besonders weit. Für schwere Gefechte hatten wir andere Themen. Doch diesmal lag in Annas Bemerkung keinerlei Häme. Sie war offenbar genau so wenig auf Streit aus wie ich. Nach Jahren des Zusammenlebens weiß man, dass man solche Momente hoch zu schätzen hat. Viel mehr als demonstrative Streitunlust sollte man normalerweise kaum erwarten. Alles andere ist unverdientes Glück.
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