Notizen vor Tagesanbruch. Sergio Vesely
sicher, ohne den Boden zu kennen
auf dem du dich bewegst.
Folge den Rattenfängern nicht, es sei denn
du zählst dich unter die Ratten.
Hänge dich nicht an die glitzernd
Vielbewunderten an
die Folgsamen sind doch nur Kopien
und Anhänger sind niemals mehr
als der Schwanz am Hintern des Hundes.
Von diesen haben wir genug.
Wenn du etwas Neues probieren willst
versuche bescheiden, aber beharrlich
einfach selbst ein Jemand zu sein.
Was auch geschieht: lasse es nie allein
nach dem Willen der anderen geschehen.
Genieße jede Bewegung, solang sie
deine eigene ist. Du hast Zeit. Noch.
Koste sie aus mit Stolz. Mit Leidenschaft.
Und behaupte nicht am Ende
du hättest nichts gewusst. Oder
einer allein könne ja doch gar nichts tun.
Das haben wir zu oft gehört.
Mach etwas mehr aus dir als eine verblassende Eintragung
in der Gästeliste.
Und, versteht sich:
Traue den Gedichten nicht
mindestens solange du selbst
noch keine geschrieben hast.
Wiederhole unsere Fehler.
Aber übertreibe es nicht.
Das haben
wir ja schon getan.
Die Mechanik des Subalternen
Man sagt ihm, er soll anlegen
und er feuert.
Man sagt ihm, er soll Ordnung schaffen
und er schiebt unverzüglich eine Patrone
zwischen seine Pupille
und die Brust eines politischen Gegners.
Man sagt ihm, er soll sauber machen
und er säubert.
Man sagt ihm, er soll sein Land verschönern
und er durchkämmt Stadt um Stadt
auf der Jagd nach Feinden.
Man schaltet ihn ein
und er springt an.
Man erwähnt das Wort „Revolution“
in seiner Gegenwart
und der Mann verwandelt sich
stehenden Fußes in einen perfekten Bluthund.
Nur wenn jemand kommt und ihm befiehlt sich gegen sein erbärmliches
Schicksal zu wehren
widersetzt er sich
und nimmt Alarmstellung ein.
Dieses Subjekt trägt seine Menschenwürde
verkehrt herum.
Was für jeden anderen eine Schande wäre
das ist sein ganzer Stolz.
Beweis einer Niederlage
Unsere Niederlagen beweisen ja nichts,
als dass wir zu wenige sind
die gegen die Gemeinheit kämpfen.
Bertolt Brecht
Sie heißen: Raúl, Mariana
verheiratet
drei Kinder
fünf, sechs und
dreizehn Jahre alt
geflüchtet vor der großen Stadt
auf eine kleine Farm
tief drin und
irgendwo im Land
Außer dass sie
zufrieden waren mit ihrem Leben
außer dass sie sich liebten
und ihre Kinder
aber nicht zufrieden waren
ihrem Land
und
nicht sonderlich gern hatten
das Militär und seine Schergen
gibt es, genau genommen,
nichts besonderes zu berichten
aus dem Leben von Raúl oder Mariana
Soll heißen: bis zu einem
Frühlingsdienstag
mitten drin in unserer Zeit.
Ein Nachbar hatte es gemeldet:
Raúl, Mariana sind schädlich für das Land
Und folgerichtig
vier Wagen ohne Nummernschild
und Uniformen ohne Gesicht
verhaften Raúl
verhaften Mariana
Die Kinder
eine Großmutter
und ein unbekannter Viehtreiber
bezeugen die Verhaftung
gehen zum Richter
Der Richter aber
wusste nichts von Raúl, nichts von Mariana
nichts von Verhaftungen
nichts von Wagen ohne Nummernschild
nichts vom Militär
Man stellte fest:
es gab keine Verhaftung
und es gab Raúl nicht
und es gab Mariana nicht
nur eben ein faselndes Weib
mit Zahnlücken und einer Krücke
drei flennende Gören
und den üblichen
verschüchterten Viehtreiber
sagte der Richter
sagte die Polizei
sagte deine und meine Zeitung
Zugegeben: von Raúl und Mariana
besitze ich nicht viel mehr
als einen sachlichen und ausgewogenen
Bericht
so wie das Sitte ist in meinem Land
eine kleine Zeitungsmeldung
und einem Foto
auf diesem Foto sind drei alberne Kinder
und Mariana und Raúl
das heißt: es muss sie also doch
gegeben haben.
Im nächsten Sommer
kommen plötzlich Leute an die sagen
man hätte Raúl gesehen
in einem Krankenhaus des Militärs
vielmehr man hätte
eine verquollene Visage gesehen
und einen aufgedunsenen Unterleib
zwei halb zerquetschte Hände
die schreiben mühsam auf einen Zettel
ich heiße Raúl
benachrichtigt Mariana