Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
zu Unstimmigkeiten auf beiden Seiten führen. Wem wird damit wirklich geholfen? Ein Naturwissenschaftler erzählt uns wiederholt über die Kluft zwischen naturwissenschaftlicher Kompetenz seiner indischen Kollegen im Department und deren traditionellen Ansichten. Wir sind einig, daß es ohne die Überwindung dieser Kluft eine moderne Entwicklung nicht geben wird. Warum diskutiert er diesen Tatbestand mit den indischen Kollegen? Er will nicht sofort antworten. Er nimmt sich eine Auszeit. Er ist schon seit einigen Wochen in Jaipur. Er wird auch einige andere Departments in anderen Teilen des Landes besuchen. Seine Frau und sein Sohn begleiten ihn.
Am nächsten Tag kommt er selbst auf das Thema zurück. Wir sind nicht über seine Antwort überrascht. Überrascht sind wir über seine Offenheit und Ehrlichkeit. Es sei eine sehr schöne Zeit, die die ganze Familie in Jaipur erlebt. Er möchte seine persönliche Frustration nicht außer Kontrolle geraten lassen, möchte nicht, daß seine Mission hier oder in den anderen Universitätsorten in Indien gefährdet wird. Deshalb wird er mit seinen indischen Kollegen nicht diskutieren. Und später, in seinem offiziellen Bericht? Auch nicht. Er wird diese „Reisequelle“ nicht gern durch seine eigenen Handlungen versiegen lassen. Ohne offizielle Einladungen können Forschungsreisen wie diese nicht stattfinden. Dies hat mit Skrupel, mit Moral oder mit Courage nichts zu tun. Nur mit nüchterner Kalkulation. Auch seine Kinder sehen es gern, wie die Bananen wachsen, oder Mangos oder Pfeffer. Privat könnte er ihnen eine Reise wie diese nicht bieten.
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Die Redaktionen beider Magazinsendungen des WDR rufen häufig an. Die Verständigung ist schlecht. Die Idee des Telefoninterviews mußten wir fallen lassen. Wir vereinbaren die einzig mögliche Organisation der Zusammenarbeit. Bei etwas längerfristig voraussehbaren Themen werden sie eine Funkleitung beim ARD–Studio in Neu–Delhi bestellen. Ich müßte dann von Jaipur nach Delhi reisen. Über Nacht per Bahn. Ca. 8 Stunden.
Die Kommunikation mit dem Institut in Köln ist dürftig. Seit Mitte Juni sind wir weg aus Köln. Nach unserer Ankunft in Jaipur habe ich an die Kollegen im Institut und natürlich auch an König geschrieben. Dann kam die Geschichte mit Unnithans Flugticket. In meinem ersten ausführlichen Schreiben an König habe ich erwähnt: „Unnithan ist interessiert, mit uns zusammen eine Untersuchung über die Orientierung der indischen Bürokratie durchzuführen. Das erstaunlichste an der indischen Bürokratie ist, daß jeder einzelne das für seine Stellung richtige Verhalten herausgefunden hat und das Verhalten der anderen sehr genau antizipieren kann. Auf diese Weise kann jeder, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, wunderschön ineffektiv bleiben. Es ist nicht so, daß die Bürokraten hier nicht tüchtig wären. Nur daß sich ihre Tüchtigkeit in Verzögerung und Blockierung ausdrückt, die sich nur durch eine fast institutionalisierte Bestechung beheben läßt. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Aspirationen der Beamten schneller gestiegen sind als die Gehälter anderer Gruppen. Ich war wirklich sehr erstaunt herauszufinden, daß hier jeder genau weiß, welche Leistung mit weichem Extra entlohnt werden muß. Über die Höhe wird nicht gehandelt, sie steht fest. Sie können uns sicherlich eine ganze Reihe Anregungen geben, wie wir die Untersuchung am besten anlegen können.“
Was hier unausgesprochen im Mittelpunkt steht, ist die Rolle der Bürokratie in dem Modernisierungsprozeß. Die Soziologen in Indien sind gerade mit Diskussionen über den die Soziologie bestimmenden Begriff der 40er und 50er Jahre „Westernisierung“ beschäftigt. Gesellschaftliche Veränderungen würden nur durch das Spannungsfeld zwischen „Westernisierung“ vs. „Sanskritisierung“ verständlich, praktisch die Vorläufer der Diskussion über das Spannungsfeld zwischen „Modernität“ vs. „Traditionalität“. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Die Richtung der früheren Diskussion war offen. Bei der späteren Diskussion ist Traditionalität als eine eindeutig frühere Phase der Entwicklung definiert, die dann zur Modernität übergeht. Zur gleichen Zeit wird auch die „Phasentheorie“ der weltwirtschaftlichen Entwicklung in den USA von Walter Rostow kreiert. Sicherlich nicht zufällig, wie ich heute weiß.
Aber damals befasse ich mich intensiv mit der Frage, wie der soziologische Begriff der Modernität, wie er von Daniel Lerner und Talcott Parsons diskutiert wird, für indische Verhältnisse operationalisiert, d.h. für eine Erhebung handhabbar gemacht werden kann. Ich beginne unterschiedliche Verhaltensweisen in gleichartigen Situationen zu identifizieren und diese im Spannungsfeld modern vs. traditionell zu bewerten. Dann versuche ich viele Verhaltenssituationen zu identifizieren, in denen unterschiedliche Verhaltensweisen in der definierten Bandbreite möglich sind.
Das erste Schreiben des Kölner Instituts trägt das Datum von 30. August 1966. Nachfolger Stendenbachs Dieter Fröhlich, früher in Afghanistan bei der Außenstelle der Universitäten Bochum und Köln an der Universität Kabul, schreibt:
„Am 28. Juli ging hier ein Schreiben (der Deutschen Forschungsgemeinschaft) ein, in dem uns mitgeteilt wurde, daß die Angelegenheit nun dem Hauptausschuß zur Entscheidung vorliegt, allerdings müsse über diesen Antrag mündlich verhandelt werden, und diese Sitzung findet erst am 7. Oktober statt. Das heißt also, daß noch alles in der Schwebe ist und Sie sich – wohl oder übel – noch gedulden müssen. Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat noch nichts von sich hören lassen. Wir werden in den nächsten Tagen dort anrufen, um zu erfahren, wie weit Ihr Antrag gediehen ist.“
Nach der Abreise Unnithan‘s kehrt für uns etwas Ruhe ein. Wir lernen den Campus, die Kollegen und die Stadt näher kennen. Unsere Gedanken kreisen um längerfristige Perspektiven. Am 21. September 1966 erst beantworte ich das Schreiben Fröhlichs:
„Was meinen Antrag an die Forschungsgemeinschaft angeht, so finde ich es wirklich enttäuschend, daß sie jedes Mal telefonisch etwas versprechen, was sie nicht halten. ... An das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit habe ich vor einigen Tagen geschrieben. Noch besser wäre es, wenn Sie die Zeit fänden, Herrn Dr. Greif ab und zu anzurufen, damit das Interesse vom Institut aus gezeigt wird.“
Und zu unserem neuen Umfeld schreibe ich:
„Anlaß zur Kritik an den Verhältnissen hier gibt es natürlich in Fülle. Und ich weiß nicht, wenn ich für immer hierher gekommen wäre, ob ich nicht sehr frustriert wäre. Was mich wirklich erstaunt ist, daß die sogenannten gebildeten Menschen in ihrem Verhalten so irrational und traditionell sind. Man könnte fast von einer dualen Persönlichkeitsstruktur sprechen. Es ist nicht so sehr das fehlende Wissen, was im modernen Sektor alles verlangsamt, sondern die Attitüde der Personen, die ihr gesamtes Wissen nur darauf verwenden, sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. Wie sie das schaffen, muß man wirklich bewundern. Es gehört schon Intelligenz dazu, nichts zu tun in einer Weise, die kein Vorgesetzter kritisieren kann. Wenn alles programmgemäß verläuft, werde ich eine Untersuchung über die hohen Funktionäre des modernen Sektors durchführen, mit dem Ziel herauszufinden, inwieweit diese Gruppe das angeeignete Wissen tatsächlich anwendet, inwieweit diese Gruppe eine wissenschaftliche Attitüde entwickelt hat bzw. wie groß die Diskrepanz zwischen Wissen und dessen Anwendung ist. Meine Hypothese ist, daß das schwerste Hindernis, das der Modernisierung entgegensteht, nicht im traditionellen Sektor liegt. Wenn der sogenannte moderne Sektor nicht modernisiert wird, wird die Entwicklung eher verlangsamt als beschleunigt.“
Erst nach dem Soziologenkongreß beginnen auch andere Kollegen zu schreiben, eher privat, weil es offiziell nichts Neues zu berichten gibt. König hat mir noch keine Zeile geschrieben. Vielleicht ist er sauer auf mich, daß ich ihn wegen Unnithan so bedrängt hatte. Unnithan bringt die Kunde mit, daß König im Oktober in Kabul nach den Rechten sehen muß und bei der Gelegenheit einen Abstecher in Jaipur machen wird.
Hansjürgen Daheim, mit der Habilitation vor mir an der Reihe, leitet die soziologische Abteilung des Mittelstandsinstituts. Es ist nicht in einem der Universitätsgebäude untergebracht, sondern in der Stadt in einer Etagenwohnung. Daheim ist der einzige Mitarbeiter von König, der seine Briefe an uns nicht im Institut diktiert, sondern privat schreibt. Einen unmittelbaren Arbeitszusammenhang mit ihm habe ich nicht. Seine Briefe sind anders. Am 18. September hat er geschrieben:
„Liebe Frau Aich, lieber Herr Aich, herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Brief, nach dem wir uns fast ein Bild davon machen können, wie Sie in Jaipur leben. Wir hoffen vor allem, daß es Ihnen inzwischen gelungen ist, eine Wohnung zu finden, die nicht derart