Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich

Preis des aufrechten Gangs - Prodosh Aich


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Köln, Rotterdam, Beirut, Port Said, Jidda, Aden. 30 Tage Seefahrt. Dazwischen zweimal festen Boden unter den Füßen. Jeweils für wenige Stunden. Wir sehen die Silhouette der westlichsten indischen Großstadt. Aber an Land gehen dürfen wir nicht – wir, meine Frau, deutsche Staatsangehörige und promovierte Ökonomin, und ich. Der einsetzende Monsun hat, wie alle Jahre wieder, zu einem Entladungsstau bei den Frachtschiffen geführt. Wartezeit von mindestens zwei Wochen. Und wir haben keine Zeit zum ungewissen Warten.

      Ich habe eine einjährige Lehrverpflichtung übernommen an der Universität Rajasthan in der Hauptstadt Jaipur des Bundesstaates Rajasthan. Beurlaubter wissenschaftlicher Assistent im Institut für Soziologie an der Universität Köln. Das akademische Jahr hat schon am 7.Juli 1966 begonnen. Also drängen wir darauf, ausgeschifft zu werden. Auch die Reederei hat kein Interesse, uns für eine unbestimmte Zeit durchzufüttern, was nicht billig ist. Passagiere eines Frachtschiffes sind immer Erste–Klasse–Passagiere, mit allem Drum und Dran.

      Wir haben Erfolg. Wie machte die Reederei es im durch und durch bürokratischen Indien möglich, Passagiere an Land gehen zu lassen aus einem noch gar nicht richtig in Indien angekommenem Schiff? Wir sind heil froh, am nächsten Tag samt unserem Gepäck mit einem Motorboot zur Zollabfertigungsstelle des Hafens gefahren zu werden. Der Warteraum des Zollamtes ist leer. Passagierschiffe meiden Indien während der Monsunzeit. Die Zollbeamten finden dennoch keine Zeit für unsere Abfertigung. Allesamt sitzen sie an ihren Schreibtischen und bearbeiten ihre Akten. Sie haben uns gesehen, und wir können sie sehen. Und, wie gesagt, wir sind in Eile!

      Gut, daß wir zu zweit sind. Die Paßkontrolle ist besetzt. Ich eile nach dem Geldumtausch zum Hauptbahnhof. Die Eisenbahnfahrt nach Jaipur zu organisieren. Es ist eine Reise von eineinhalb Tagen mit der Eisenbahn. Reservierung ist Pflicht, ganz gleich, in welcher Klasse man fährt. Ich instruiere meine Frau, wenn es mit der Zollabfertigung so weit sei, jedes einzelne Gepäckstück zu öffnen und alle Gegenstände – und wir haben einige Gerätschaften für den einjährigen Lehr– und Forschungsaufenthalt mit –, die über das übliche Reisegepäck hinaus gehen, auf dem Abfertigungsbogen einzeln eintragen zu lassen. Eine eher intuitive Vorsichtsmaßnahme.

      Die nächsten Tage sind restlos ausgebucht. So wird mir gesagt. Nichts zu machen. Zwar gibt es auch eine Luftverbindung zwischen Bombay und Jaipur, aber wie sollen wir die Flugkosten für das viele Gepäck bezahlen? Niedergeschlagen berichte ich meiner Frau über diese mißliche Situation. Sie ist auch ziemlich betrübt und nachdenklich. Immerhin hat sie inzwischen die Abfertigung hinter sich gebracht, wenn auch nicht ohne Komplikationen. Die Zollbeamten sehen das Ansinnen meiner Frau nicht ein, sich in unnütze Arbeit zu stürzen. Unnütz, weil ich mich ja elf Jahre im Ausland aufgehalten hatte und daher eh berechtigt gewesen wäre, unseren gesamten Hausstand zollfrei mitzubringen. Es war gut, daß ich nicht dabei war. Mein eindringlicher Hinweis an meine Frau hatte gefruchtet. Ich weiß nicht wie – die westfälische Beharrlichkeit meiner Frau und vielleicht auch ihr sich aus der sichtbaren Hilflosigkeit entwickelnder Charme –, aber sie hatte die Zollbeamten überredet, die „unnütze Extraarbeit“ auf sich zu nehmen, ohne dafür etwas auf die Hand überreicht zu bekommen. Meine Frau hatte kein Geld bei sich, und selbst wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie nicht gewußt, wie so etwas zu bewerkstelligen gewesen wäre.

      Die Zollbeamten sind von Beruf aus neugierig. Sie fragen meine Frau aus. Nachdem sie so gut wie alles über unser bisheriges Leben wissen, wünschen sie ihr alles Gute. Durchaus zweideutig, ehrlich und ironisch zugleich. Der Leiter des Zollamtes macht eine Eintragung im Reisepaß meiner Frau, unterschreibt diese mit vollem Namen und bittet sie, nach ihm zu fragen, sollten wir unsere Rückreise von Bombay aus antreten. Er würde gern wissen wollen, wie unser Aufenthalt tatsächlich verlaufen ist. Der wohlwollend ironische Unterton kommt bei meiner Frau an. Ein Jahr in Indien, mit einem so „unindischen“ indischen Mann!

      Was tun, um schnellstmöglich Jaipur zu erreichen? Ich kenne Bombay nicht, ich war nie in Bombay, ich habe auch keine Verwandten oder Freunde hier, aber wir haben einige Adressen für Bombay mit. Eigentlich hat jeder Inder Adressen mit, wenn er in die Fremde reist. Also rufe ich jemanden an, dessen Anschrift meine Frau von ihrem Hindi−Lehrer, auch ein Inder an der Universität Köln, erhalten hatte. Mr. Metha, ein Geschäftsmann aus dem benachbarten Bundesstaat Gujerat, aber seit langem in Bombay zu Hause. Er kommt auch relativ prompt, hilft uns, unsere Gepäckstücke zur Aufbewahrung zu bringen, und nimmt uns so selbstverständlich mit zu seiner Wohnung, als ob dies schon seit langem verabredet gewesen wäre. Uns tut das gut. Als er hört, daß wir dringend nach Jaipur müssen und für Tage keine Reservierung für eine Bahnfahrt möglich sei, lacht er. Wir können sein Lachen nicht deuten. Auch das belustigt ihn, aber dann beruhigt er uns. Wir sollten uns keine Sorge machen und uns beruhigen. Er will dafür sorgen, daß wir schnellstmöglich nach Jaipur kommen.

      Die früheste Möglichkeit wäre ein Zug am nächsten Morgen. Wegen der langen Reise schlägt er die erste Klasse vor. Wir sollten uns ausruhen. Er will sich um die Fahrkarten kümmern. Tatsächlich bringt er zwei reservierte Fahrkarten für den nächsten Zug mit. Bevor wir unser Erstaunen in Worte fassen können, teilt er uns eher beiläufig mit, daß er pro Ticket 10 Rupien „extra“ habe bezahlen müssen. Darüber wird nicht verhandelt. Wie hätte ich das wissen können, daß es ohne „extra“ keine Fahrkarten gibt? Das hat man zu wissen. Mr. Metha verrät uns noch, daß in Indien jeder reibungslose Ablauf seinen festen Preis hat. Wir sollten dies beherzigen.

      Diese kleinen Episoden hätten mich schon ernüchtern müssen, mir klar machen müssen, daß ich mein Land nicht kannte, nicht mehr kannte, vielleicht nie richtig gekannt habe. Nichts von alledem. Stattdessen verarbeite ich diese Kleinstepisoden europäisch intellektuell. Als moderner Sozialwissenschaftler identifiziere ich problemlos das Grundübel. Die Rückständigkeit Indiens sei verursacht durch die Traditionalität. Korruption ist nur ein wichtiger Teil davon. Selbstgefällig erkenne ich meine Verpflichtung, als modern ausgebildeter Wissenschaftler einen Beitrag für die Überwindung der Rückständigkeit meines Landes zu leisten. Ja, es stellen sich auch ein gewisser Stolz und eine innere Befriedigung bei mir ein, daß meine Sensibilität auch auf kleinste Hinweise reagiert. Ich weiß nun immer definitiver, daß ich eine wichtige Mission zu erfüllen habe. Zur Skepsis habe ich so keine Veranlassung. Denn zu dieser Gastprofessur wurde ich eingeladen. Gastprofessur im eigenen Land! Der Widerspruch fiel mir damals nicht auf. Wie sollte er auch? Was soll daran denn falsch sein?

      Als es feststeht, daß ich nach elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland nach Indien zurückkehre, ehrt mich Werner Höfer in seinem sonntäglichen „Internationalen Frühschoppen“. Ein bekannter indischer Wissenschaftler und Publizist, in Deutschland ausgebildet, geht in seine Heimat zurück. Das in Deutschland erworbene Wissen soll zum Fortschritt, zur Modernisierung seines Landes beitragen. Nach dieser öffentlichen Verabschiedung im deutschen Fernsehen interviewt mich Werner Höfer noch für seine wöchentliche Kolumne in der Wochenzeitung „Die Zeit.“ Peter Bender, damals in der WDR–Hauptabteilung Politik, regt an, daß ich Tagebuch führen sollte. Die Redaktionen „Morgen– und Mittagsmagazine“ des WDR bitten mich, unmittelbar nach meiner Ankunft in Jaipur meine Telefonnummer nach Köln zu übermitteln, damit die Redaktion mich für die Magazinsendungen einplanen kann.

      Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, mich in einen Rauschzustand von Dauer zu versetzen. Ich habe es geschafft, es jenen gleich zu tun, deren Vorfahren vom 16. Jahrhundert an in die Welt hinausgegangen sind und sich diese Untertan gemacht haben, jenen blonden, blauäugigen, weißen Christen, denen es gelang, ihrer Kultur weltweit Geltung zu verschaffen. Denen ebenbürtig geworden zu sein, dazu quasi im Zentrum der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur, ohne blond-blauäugig-weiß-christlich zu sein, hat mich berauscht; wenn nicht berauscht, so doch blind, blauäugig und überheblich gemacht. Später werde ich einsehen, einsehen müssen, daß dies keine besondere Leistung gewesen ist. Unzählige vor mir haben diese Leistung vollbracht und werden sie nach mir vollbringen. Denn alle Eroberer haben in den eroberten Gebieten instinktiv das vorgefundene Erziehungssystem unterminiert, unterwandert und zerschlagen und das eigene eingeführt. Aber die Briten haben diese Politik in Indien mit Bedacht eingeführt. So formulierte der Liberale Thomas Babington Macaulay (1800 – 1859), der 34jährig als Berater zu einem Salär von 10.000 britischen Pfund dem „Supreme Council of India“ diente, 1835 folgende bemerkenswerte Sätze zur Erziehungspolitik


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