Marx und Nietzsche mischen sich ein - Die heillose Kultur - Band 1.1. Dr. Phil. Monika Eichenauer
sich ggf. zusammenschlagen, wenn klar ist, dass derartige Schläger auf freien Fuß gesetzt werden, sprich, eine Bewährungsstrafe bekommen? Sollten sie nicht besser mal den Sicherheitsdienst zur Strafe für zwei Jahre unentgeltlich und täglich zu vier Stunden in ihrer Freizeit, sprich im Nachtexpress-Bus, versehen? Denn die Täter schrecken ja wohl nicht davor zurück, einzugreifen. Selbstverständlich müssen sie vorher ein Training absolvieren, dass sie diesen Dienst nicht für eigene Gewaltgelüste nutzen...! Sie müssten ihre Dienste jeweils in Begleitung mit ausgebildetem, aber nicht feigem, Sicherheitspersonal der DSW versehen.
Zurück zum Überblick des Buches: An die Einführung über die Kontinuität von Gefühl, Erleben, Erinnerung aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart, schließen sich Reflexionen über Kapitalismus anhand von Entwicklungen und Handlungsbeispielen der Wirtschaft in den letzten Jahren an, um dann zu zwei deutschen Philosophen überzuleiten, die aus völlig unterschiedlichen philosophischen Sichtweisen und mit völlig anderen Worten und Analysemitteln zum gleichen Appell gelangen: „Der Mensch muss im Mittelpunkt des Menschen stehen.“
Forderung und Fazit habe ich kurz in dem Begriff Selbstwert zusammengefasst und dem Kern und Ziel kapitalistischer Wirtschaft gegenüber gesetzt: Selbstwert statt Mehrwert. Kernaussagen von Karl Marx und Friedrich Nietzsche werden aufgegriffen und mit dem grundsätzlich menschlich anständigem Ziel tiefenpsychologischer Psychotherapie, Menschen in ihrem Selbst und/oder Selbstwert zu stärken und handlungsfähig wie gesund oder gesünder werden zu lassen, ergänzt. Warum Psychotherapie gesellschaftlich abgewertet und als Methode für Personen non grata gehandelt wurde, bestätigt auch noch in der Gegenwart trotz gesetzlich geregelter Psychotherapie die Brisanz der Zielsetzung psychotherapeutischer Behandlung. Darüber können Sie sich, lieber Leser, dann in den beiden nachfolgenden Bänden II und III, in denen es um die Entwicklung Psychologischer Psychotherapie im Gesundheitswesen und die Rolle der Ärzteschaft – wobei die zugelassenen Psychologischen Psychotherapeuten als Fachärzte für Psychotherapie eingeordnet wurden – in der Gesundheitswirtschaft geht, genauer über die Zusammenhänge informieren lassen, wenn Sie mögen.
Und weil der Mensch ein Mensch ist, sollten Menschen formulieren, was denn nun ein Mensch ist, was er tragen und ertragen, was er nicht ertragen und was er, im Gegensatz zu den heute auszufüllenden Rollen in erzwungenen Lebenswelten, sein könnte und was er unter allen Umständen lernen sollte, Wert zu schätzen am Menschen.
Wie Vergangenheit in der Gegenwart in Menschen wirkt
Generell sind Menschen, und insbesondere Patienten, leiblich-seelische Zeugen menschlicher Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten heutiger Tage. Wenn sie nicht mehr allein im Leben klar kommen oder sie körperlich krank sind, suchen sie einen Arzt auf. Die Gründe sind so individuell wie sie selbst. Aber es liegen ähnliche Gründe, wie sie durch Gesellschaftsstrukturen und Kultur gegeben sind, vor, die zu Symptomen und in die Psychotherapeutischen Praxen führen. Sie geben Kunde, auf welchem Stand Menschen heutzutage in ihrer Entwicklung im Einklang der politisch-wirtschaftlichen Gemeinschaft gelangt sind. Die Frage ist andererseits, ob das, was Patienten mitteilen, gehört und verstanden wird und ob dem angemessen Behandlungsempfehlungen folgen. Psychologische Psychotherapeuten und Ärzte sind gleichfalls durch gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Ausbildungsstandards geprägt. Insofern ist es wesentlich, wie sie ausgebildet sind und welches Verständnis ihnen vom Menschen vermittelt worden ist. Denn es nützt nichts, wenn Patienten dezidiert mitteilen, was sie haben und der Behandler beachtet diese Mitteilungen nicht. Dann versickert wichtiges Erfahrungsgut von Patienten in Behandlungszimmern und der Patient wird seine Mitteilungen über sich selbst unbestätigt oder unbeachtet gleichfalls als nicht wichtig für seinen Gesundungsprozess erachten und ratlos zurückbleiben. Oder aber er wird belehrt, etwas völlig anderes zu haben, als er dachte und er wird entsprechend der Sichtweise des Behandlers durch Behandlungen geführt. Viele Jahrzehnte war es üblich, dass nur die Ärzte wussten, was einem Patienten tatsächlich fehlt und woran er erkrankt war. Die Ärzte sprachen wenig mit Patienten. Dies folgte dem propagierten Selbstbild des Arztes in der wissenschaftlich-kulturellen Gemeinschaft in unserem Lande, die maßgeblich aus wirtschaftlichen Interessen im Hintergrund gesteuert wurde und bezog sich auch auf den Umgang mit psychischem Leid und sozialen Folgen (wie zum Beispiel Kriegen, Arbeitslosigkeit, Hunger etc.). Leid und Not hinterlässt Spuren in Menschen, die bis heute erhalten sind und die in unserem Gesundheitswesen nicht von belang waren und mittels Gesetzeslage von vornherein abgeblockt wurden, weil die Bearbeitung dieses Leids und dieser Not nicht von Krankenkassen oder Rentenversicherungsträgern getragen werden sollte. Zum Beispiel die Tränen eines 68-jährigen Mannes, der im mitgebrachten Buch, Die vergessene Generation von Sabine Bode, der Tochter im Jahre 2008 liest: also 63 Jahre nach Ende des Krieges. Er sitzt am Küchentisch. Unwillkürlich und ungewollt weint er. Er gibt Zeugnis, dass Erfahrungen im Menschen gespeichert werden und sowohl individuelle Geschichte des Betreffenden wie Gesellschaftsgeschichte widerspiegelt: „Ich kann auch kein Brot wegwerfen...“ Er erzählt dann weiter, wie diese Kriegs- und Nachkriegszeit für ihn war und immer noch ist. Er weint und berichtet von diesem furchtbaren Hunger, den er erlitten hat. Und er weint an vielen anderen Stellen des Buches, weil sie sofort die Erinnerung an eigene Erlebnisse wachrufen, die weder vergessen, noch tatsächlich verarbeitet, noch Konsequenzen für eine eigene Haltung, eine eigene Sicht auf Erlebnisse und Sachverhalte zeitigte. Die Angst sitzt tief.
Ich persönlich kenne diesen zehrenden und vernichtenden Hunger durch die Schilderungen meiner Großmutter und Mutter. Jeden Donnerstag kam meine Großmutter zu Besuch zu uns und verkochte das von meiner Mutter gesammelte Brot zu einer Brotsuppe mit Milch und Rosinen: Brot wurde nicht weggeschmissen. Die Brotsuppe wurde zur Mahnung an Hunger und Krieg und gleichzeitig zur Achtung und Ehrung von Brot: Jahrzehntelang nach dem Krieg. Meine Großmutter starb am 11. November 2003 an Darmkrebs. Sie hatte monatelang unendlich gelitten. Sie schrie vor Schmerzen. Die Ärzte wurden gefragt, wie die Schmerzen zu lindern sind, denn selbst Morphium und künstliche Ernährung brachten keine Linderung. Meiner Mutter wurde von Ärzten die Entscheidung angetragen, ob meine Großmutter weiterhin künstlich ernährt werden sollte oder nicht. Das Martyrium für meine Oma zu beenden war oberstes Ziel. Nach schweren Tagen und Wochen fällte meine Mutter die Entscheidung im Kreise unserer Familie: Meine Großmutter wurde nicht mehr künstlich weiter ernährt. Für sie wurde die schmerzliche Erfahrung und Angst am Ende ihres Lebens zugleich zum Helfer ins Jenseits: Sie verhungerte. Qual und Leid hatten ein Ende. Ihre größte Angst, nämlich Hunger leiden zu müssen, begleitete sie bis in den Tod. Gesteigert gesehen, war der Hunger das Mittel, um von Schmerzen erlöst zu werden.
Oder ein Sohn, der plötzlich begreift, warum sein Vater sich jahrzehntelang mit strategischen Schlachtplänen des Krieges mit Datum und Zahlen von Toten beschäftigte: Ein Versuch, die Wand der Gefühllosigkeit zu durchstoßen. Das Unfassliche des Krieges soll irgendwie zum persönlich Fassbaren durch Nacherleben werden. Ein Heilungsversuch, um den Gespenstern der Vergangenheit zu entkommen, die viele Menschen nicht schlafen lassen. Ein hilfloser Versuch, um im Nachkriegsleben ein Gefühl von Sicherheit gegen die erfahrene Todesangst zu setzen.
Eine Tochter, die begreift, warum ihre Mutter fast immer hilflos und inkompetent in sozialen Situationen dastand und sich nichts zutraut. Die Tochter versteht, warum sie selbst dauernd unter Schuldgefühlen leidet, ihrer Mutter nicht vertrauen konnte und sich unendlich allein in der Familie fühlte und tatsächlich auch war.
Kinder, die Symptome der Eltern übernehmen, weil sie das Unglück, das Leid aus der Welt der Eltern verbannen wollen: Sie möchten, dass ihre Eltern glücklich und frei sind – und am Ende haben alle in der Familie ähnliche Symptome und Krankheiten. Geteiltes Leid ist dann nicht halbes, sondern doppeltes und dreifaches Leid! Leid wird dann kleiner, wenn einem Menschen zugehört wird, wenn er fühlend erzählt, was ihm angetan wurde.
Die Deutschen haben mit aller jedem Einzelnen zur Verfügung stehenden Kraft versucht, ihre Geschichte zu verarbeiten – aber es fehlten die richtigen Hilfsmittel. Ob wir sie heute haben, ist ungewiss. Vielleicht hilft tatsächlich nur, den Berg von Leiden irgendwie Leid für Leid abzubauen und in Gegenwart und Zukunft Schädliches konsequent von Menschen fern zu halten.
Genauso fehlen für die im Nachkriegsdeutschland geborenen Menschen die Blickwinkel zu