Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
mit ihrem Landsmann Sören schimpfen hören.
Gerd, Wolle, John und ich rannten hinauf. Leif gab Sören eben den Auftrag, Nine zu suchen. Als ich Sören erblickte, ging der Gaul mit mir durch und ich schrie: „Was zum Teufel hast du mit Svea gemacht? Wie konntest du dieses todkranke Kind hier wieder weglaufen lassen?“
Jan-Stellan und Leif begrüßten uns kurz und herzlich, während Sören herumdruckste.
„Sie ist erwachsen. Was habe ich mit ihr zu tun? Ich bin mit ihr nur locker befreundet. Sie führt ihr eigenes Leben.“
„Wo ist Svea?“, brüllte ich.
Und Wolle fuhr ihn an: „Warum hast du nicht auf sie aufgepasst, wenn du dich doch als Freund von ihr ausgibst?“
„Was hat Nine mit der Sache zu tun?“, fragte Gerd. Die Frage richtete sich an alle drei, an Leif, Jan-Stellan wie an Sören.
„Das kann euch der Idiot hier sagen!“ Leif, der Größte von uns allen, zeigte auf Sören, ging dicht an ihn heran und stach ihm mit dem Zeigfinger gegen die Brust. Sören torkelte etwas zurück und sagte fast unter Tränen: „Dieser dreckige kleine Araber hat sie völlig umgedreht.“
„Umgedreht?“ Ich sah ihn scharf an.
„Ja, Nine ist ein Zuhälter und hat ihr seit Monaten Anträge gemacht und ihr schon vor langem zahlungskräftige arabische und europäische Freier zugeführt. Ich könnt‘ ihn erwürgen!“
„Aber nur, weil du selbst sie nicht mehr ausbeuten kannst“, sagte Wolle.
„Ich habe Nine hier rausgeworfen, als er vor drei Tagen Svea besuchte, die sich mir gerade wieder anvertrauen wollte.“ Sören schaute mich Verständnis heischend an. Aber ich hatte kein Verständnis. Ich schaute zu John und hoffte, dass zumindest er sich zurückhielt.
„Und weiter?“, fragte ich.
„Als er vor dem Hotel stand, pfiff er.“
„Den Pfiff habe ich gehört und dachte natürlich nicht an Svea!“, sagte Leif und schlug sich an die Stirn.
„Svea griff ihren Koffer, der immer abreisebereit an der Tür stand, und stürzte die Treppe hinunter“, warf Sören ein. „Ich konnte sie nicht aufhalten. Vom Balkon aus sah ich, dass Nine sie in Richtung Djemaa begleitete.“
„Und du warst zu feige, sie aufzuhalten?“ Ich sah Sören herausfordernd an und rechnete mit einer albernen Entschuldigung. Doch er schüttelte entschieden den Kopf.
„Ich folgte ihnen unauffällig, um zu sehen, was nun geschehen würde. Nine führte sie zu einer Limousine, in dem zwei junge Männer saßen. Und weg waren sie.“
„Wir werden Nine finden und ihm den Hals umdrehen“, sagte Jan-Stellan. Er war von kräftiger Natur und durchtrainiert. Man konnte sich gut vorstellen, dass er mit ihm kurzen Prozess gemacht hätte. In diesem Moment hätte sich gewiss auch John ihm angeschlossen, wie ich seiner Körpersprache entnahm.
„Lasst uns gehen und Nine suchen!“, meinte Leif. „Du kommst mit!“, rief er an Sören gewandt.
„Wartet noch einen Moment“, bat ich. „Ich möchte erst noch Doro anrufen und sagen, dass wir gut angekommen sind.“
Es war höchste Zeit, sonst wäre sie beunruhigt gewesen; sie neigte zu übertriebener Sorge, wenn ich mich nicht zeitig meldete. Es war bereits zwanzig Uhr.
*
Am 4. Januar 1975 vertraute der sich als „links“ bezeichnende Vorsitzende der SPD-Programm-Kommission „Orientierungsrahmen ‘85“, Peter von Oertzen, der Frankfurter Rundschau an. Ihm zufolge solle die Grundtendenz des neuen SPD-Programms „die Abkehr vom Gedanken des Versorgungsstaats und die Hinwendung zum Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe sein.“ Dazu hatte ich einen Leserbrief geschrieben, da man mir einen redaktionellen Kommentar verweigert hatte.
Wie mir nun Doro am Telefon berichtete, war zuhause alles in Ordnung und die FR hatte meinen Leserbrief sogar in großer Aufmachung abgedruckt. „Das kommt wahrscheinlich besser noch als ein redaktioneller Kommentar“, sagte Doro.
„Na ja, die Leser sind sehr autoritätsgläubig und denken, dass ein Kommentar ‚mehr Wert‘ und ‚öffentlich wichtiger‘ sei, als irgendein Leserbrief“, antwortete ich.
Meine Einschätzung zu von Oertzens „linker Abkehr vom Sozialstaat“ hatte ich zwei Wochen vor unserer Abreise bei der mir freundschaftlich verbundenen Redaktion eingereicht. Den Text konnte ich dann übrigens genauso gut noch zwei Jahre später verwenden: „Die sozialdemokratische Partei begibt sich hier auf einen Weg, vor dem nicht eindringlich genug gewarnt werden kann. Die Durchsetzung einer solchen Abkehr vom Prinzip Solidarität könnte nicht nur, sondern müsste die Spaltung der Sozialdemokratie bedeuten.
Nicht nur der sozialistische, auch der radikaldemokratische Flügel müsste die Partei verlassen und eine neue Formation bilden. Dass nicht nur konservativ-reaktionäre Kräfte der bundesdeutschen Gesellschaft auf eine weitere Spaltung der Arbeiterbewegung setzen, sondern dass es auch innerhalb der SPD Personen und Kreise gibt, denen ein offenes Bündnis mit den ‚gemäßigten Konservativen‘ gegen die Linke vorschwebt, ist bekannt. Die Sozialisten und Radikaldemokraten in der SPD müssen daher die Verwandlung der SPD zur ideologischen Wegwerfpartei verhindern, um die Spaltung zu vermeiden, die sie sonst unweigerlich vollziehen müssten.“
Auf unserer viertägigen Tour von Westberlin über Basel, Torremolinos und Tanger bis nach Marrakesch hatte es viel Zeit zum Diskutieren.
Die Politik der SPD gab stets Anlass zu hitzigen Diskussionen. John konnte da zwar nicht mitdiskutieren, hörte sich aber alles interessiert an und zog jedes Mal Parallelen zu den korrupten Strukturen der amerikanischen Gewerkschaften, in deren Führungsetagen allesamt von den Unternehmern gekaufte Bonzen das Sagen hätten, wie er meinte.
Ich wiederum hatte mich noch über etwas anderes entrüstet, weil nicht ein einziges Wort in den Medien unseres Landes über die Enthüllungen in Italien verlautete. Elke, meine Italien-Enthusiastin und gute Kennerin des Landes, hatte mir darüber berichtet. Ihre Quellen waren verschiedene italienische Zeitungen aus unterschiedlichen politischen Lagern – von den katholisch dominierten Christdemokraten über die NATO-freundlichen und US-untergebenen italienischen Sozialdemokraten bis hin zu den Kommunisten, die sich jetzt neuerdings Eurokommunisten nannten, weil sie sich von Moskau absetzen und einen eigenständigen westeuropäischen Weg des Sozialismus einschlagen wollten.
Was also war geschehen?
Im bevorzugten Urlaubsland der Deutschen hatte der US-Geheimdienst CIA seit Jahren die italienischen Neofaschisten finanziert. Neofaschisten! Wie er zuvor die griechischen Obristen mit Geld und Strategieentwürfen zum Putsch gegen Verfassung und Volk getrieben hatte. Eigentlich eine unverschämte Einmischung in die Politik souveräner und zudem befreundeter Länder. Auch an Chile musste ich wieder denken. Nun also direkt vor unserer Haustür, mitten in Westeuropa.
„Es müsste eine Welle der Empörung auslösen!“, sagte ich. Aber es wurde in unserer Presse totgeschwiegen.
„Wieder einmal Schweigen im Walde. Aus falsch verstandener Loyalität“, meinte Wolle.
„Ja, ja, die Amis. Immer wieder die Amis“, sagte Gerd. „Was wollen die nur so fern der Heimat?“
„Sie wollen, was alle Imperien wollen: die Rohstoffe anderer Länder, ihre Absatzmärkte – und ihre politisch-militärische Unterstützung, einfach nur bedingungslose Gefolgschaft!“, antwortete ich.
„Und deshalb unterstützen sie Neofaschisten?“
„Italien hat die in Europa stärkste und bestorganisierte Arbeiterbewegung. Das stört die US-Strategen, weil sich die italienische Politik nicht so folgsam unterordnet wie zum Beispiel die deutsche. Deshalb heißt die Devise: Destabilisieren und Teilen!“
„Heißt es nicht auf Lateinisch ‚divide et impera‘, also ‚teile und herrsche‘?“, fragte John.
„Ja, das schon“, antwortete