Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig


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ein.‘

      ‚Sie kommen sich soooo klug vor, Sie Klugscheißer! Einer von der Sorte, die hier bei Väterchen Staat ihr gutes Geld auf einfache Weise verdienen wollen, um sich dann abzumachen und sich später mit irgendwelchen nichtsnutzigen Studiengängen zu Vorgesetzten von solch feinen Leuten wie Herrn Beckstein und mir aufzuschwingen!‘

      Er fuchtelte mit meinen zwanzig Seiten in der Luft herum und schrie: ‚Herr Beckstein ist ein feiner Mann. Er ist der zuverlässigste Postbeamte, den ich je in meiner ganzen Laufbahn kennen gelernt habe.‘

      ‚Seien Sie nicht betriebsblind und voreingenommen. Er ist offensichtlich auf dem falschen Platz und ein ausgesprochener Sadist. Vielleicht sollte er mal selber die Briefe austragen und das zu den Bedingungen, die er uns aufzwingt.‘

      ‚Wie lange sind Sie schon bei der Post?‘

      ‚Neun Jahre.‘

      ‚Herr Beckstein ist seit fünfzehn Jahren bei der Post!‘

      ‚Was hat denn das damit zu tun?‘

      ‚Ich sagte bereits, Herr Beckstein ist ein angenehmer Kollege und ein feiner Mann! Ich weiß nicht, ob Sie das von sich selbst auch behaupten können!‘

      Ich glaube, der Typ wollte mich tatsächlich mit seiner blaugelben Postkrawatte erdrosseln. Wenn da nicht die Tussi im Vorraum gewesen wäre, hätte ich darauf gewettet, dass er mit Beckstein geschlafen hat. Na ja, vielleicht hat er das ja, bevor beide im Sankt-Pauli-Blättchen die Tippsen-Tussi ausfindig machten, die zum flotten Dreier bereit war. Irgendwas in dieser Art musste die Drei verbinden.

      ‚Na schön‘, sagte ich, ‚Beckstein ist ein guter Mann und ein überaus verständnisvoller Kollege. Vergessen wir die ganze Sache‘. Dann ging ich und nahm den nächsten Tag frei. Unbezahlten Urlaub, versteht sich.

      Als mich Beckstein tags darauf um fünf Uhr morgens sah, wirbelte er in seinem Drehstuhl herum und Hemd und Kopf zerflossen in einem einheitlichen hochroten Ton. Seine aschfahlen Augen blickten stier aus dunklen Höhlen. Doch er sagte kein Wort. War mir sehr recht. Ich hatte bis zwei Uhr morgens mit Rosi im »Sound« getanzt und Whiskycola getrunken, eine Currywurst gegessen und Rosi anschließend gevögelt.“

      Tommi schaute zu seiner Liebsten und wartete auf Bestätigung.

      „Das war echt schön, Schatzi“, flötete Rosi.

      „Und wie ging es mit Beckstein und dir weiter?“, fragte ich.

      „Ich hatte mich zurückgelehnt und die Augen zugemacht. Der übliche Wartemodus. Um halb acht wirbelte Beckstein wieder herum. All die anderen Aushilfen hatten Arbeit bekommen oder waren zu anderen Postämtern geschickt worden, wo die Regulären fehlten.

      ‚Heute gibt’s nichts auszutragen. Sie können heute mal die Halle gründlich putzen!‘

      Mein Gott, fünfhundert verwinkelte Quadratmeter!, dachte ich noch, dann gluckerte es in meinem Bauch.

      Beckstein beobachtete meine Reaktion. Und die kam postwendend. Mein überstrapazierter Magen rebellierte mit Getöse und beförderte ganz außerhalb der postalischen Beförderungsbedingungen den Mageninhalt samt einem üblen Whisky-Cola-Curry-Bratwurst-Brötchen-Gemisch vor Becksteins Drehstuhl.

      ‚Okay, Beckman‘, rülpste ich und wischte mir den Mund mit dem Handrücken ab. Unter den Briefträgern war er Beckman, doch ich war der Einzige, der ihn auch so anredete. ‚Melde mich gehorsamst krank. Gehe zum Arzt. Magen-Darm!‘

      Ich schleppte mich hinaus, mein Auto sprang sofort an, als hätte es auf mich gewartet, und schon war ich wieder bei meinem Schatz im Bett.“

      Wieder schaute Tommi zu Rosi.

      „Das war so eine schöne Überraschung!“, flötete sie.

      „Verdammt wahr! Ich drückte mich an meine Kleine und war in weniger als einer Minute eingeschlafen.“

      „Das allerdings war der unschöne Teil der Morgenüberraschung!“, sagte Rosi.

      „Und wo bleibt bei allem das proletarische Klassenbewusstsein und dein Versuch, den vom staatsmonopolistischen System selbst unterdrückten Unterdrücker zu resozialisieren?“ Rolf meinte die Frage offenbar ernst, aber keiner hatte Lust, darauf einzugehen. Nicht einmal Peggy, die ihrem Freund gerne mal widersprach.

      Am Abend gingen wir zu viert ins benachbarte Off-Kino, Peggy, Rolf, Doro und ich. Wir sahen uns den Film von Werner Herzog über das Leben Kaspar Hausers an. Als Kaspar achtzehn Jahre alt war, konnte er das erste Mal in seinem Leben das enge Kellerverlies verlassen. Eines Tages im Jahr 1828 führt ihn dieser Fremde aus seiner Zelle heraus, lehrt ihn Gehen und ein paar Sätze und lässt ihn dann in Nürnberg allein.

      Kaspar wird Gegenstand der Neugierde der breiten Öffentlichkeit und in einem Zirkus ausgestellt, bevor ihn der Lehrer Georg Friedrich Daumer rettet. Mit dessen Hilfe lernt Kaspar schnell Lesen und Schreiben und entwickelt unorthodoxe Annäherungen an Religion und Logik, doch Musik erfreut ihn am meisten.

      Er zieht die Aufmerksamkeit des Klerus, der Akademiker und des Adels auf sich, wird aber von einer unbekannten Person angegriffen, die ihn mit blutigem Kopf zurücklässt. Er erholt sich, wird jedoch erneut auf mysteriöse Weise mit einem Stich in die Brust attackiert – möglicherweise vom selben Mann, der ihn nach Nürnberg gebracht hat. Aufgrund der schweren Verletzung verfällt er ins Delirium, worin er Visionen vom Nomadenvolk der Berber in der Wüste Sahara beschreibt, und stirbt kurz danach.

      Das gab uns genügend philosophischen Diskussionsstoff für eine lange Nacht bei Gyros und Tsatsiki im Athener Grill. Was macht das Menschsein aus? Wir kamen vom Hundertsten ins Tausendste und landeten bei den Drogen. Nun erzählten wir Peggy und Rolf, was wir in Marrakesch mit Svea erlebt hatten.

      Nach unserer Rückkehr aus Marokko und nach meiner Genesung hatte ich mich sofort an eine journalistische Auftragsarbeit gesetzt. Ein Jahrestag. Ein trauriger Jahrestag für den demokratischen Sozialismus. Am 11. September 1973 hatte in Chile General Pinochet nach sorgfältiger Planung mit der CIA gegen den demokratisch gewählten Marxisten Salvador Allende geputscht. Für die antifaschistische Wochenzeitschrift »die tat« rekapitulierte ich das Geschehen in Form eines Kommentars.

       Der rechtmäßig gewählte Präsident Chiles hat nicht verloren. Er ist gestorben, wie ein Revolutionär – im Kampf. Nun also, noch ein Jahr später, schwingen die Konservativen die Schlagzeilen-Keule triumphierend über den Köpfen ihrer ahnungslosen Leser: „Allende beging Selbstmord“ wiederholen die Balkenüberschriften jubelnd wie schon einen Tag nach dem faschistischen Staatsstreich. Natürlich kein Fragezeichen über dieser Lügenversion der putschenden Junta. Heute wissen wir aus vielen Quellen, dass die Militärs den Präsidenten erschossen, weil er sein rechtmäßiges Amt nicht freiwillig aufgab. „Rosa Luxemburg auf der Flucht erschossen“ – auch das war einmal eine reaktionäre Lügenversion über einen feigen Mord. Die deutsche Presse kennt viele solcher Todesnachrichten, die stets als unbezweifelbare Tatsachen-Version gemeldet wurden.

       Allendes „Selbstmord“ passt ins Konzept. In der Version der Sprach- und Geschichtsmanipulateure lässt sich daraus zynisches Kapital schlagen: „Allendes letzter Coup – der Pistolenschuss zum Märtyrer“, betitelt die »Welt« ihren Bericht. Wen würgt es da nicht vor Ekel? Im Kommentar zu dieser Headline wird dann aus dem „Freitod“ eine Art freiwilliger Amtsrücktritt: Wenn sich Allende umgebracht habe, „dann wäre der Präsident in der Stunde seines Sturzes mit der letzten Konsequenz aus seinem Starrsinn zurückgetreten.“

       Ergo: Die faschistische Junta regiert rechtmäßig. Das ist eine Leistung an Demagogie, vor der selbst ein Joseph Goebbels mit Respekt den Hut ziehen müsste. Seine Schüler von heute haben ihn eingeholt. Sie verstehen es sogar, aus der „chilenischen Tragödie“, wie sie einerseits heucheln, einen saftigen Kalauer zu reimen: „Allende am Ende“ (Kommentarüberschrift in der FAZ). Da kann man das brutale, schweinische Lachen jener Killer heraushören, die Salvador Allende niedermetzelten.

       In den letzten zwölf Monaten wurden von der chilenischen Junta sämtliche


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