Tod auf Mallorca. Dirk K. Zimmermann
kratzte sich dann hinter dem linken Ohr. Helga war von der Notwendigkeit des Kongresses überzeugt, so viel stand fest. Oder vielleicht besser: Sie war ein dankbares Opfer. (Kurz befiel mich der Gedanke, ob Global Sensual Maxx von meiner Flugangst wusste, von meiner Furcht zu versagen, ehe sie mich anriefen, aber diesen Gedanken verdrängte ich schnell wieder.)
Außer Helga lernte ich Georg kennen, einen Mediziner von der Universität Göttingen. Ich machte Bekanntschaft mit Carl-Maria, Chefentwickler eines Pharmaunternehmens und Vorsitzender einer Kommission der Gesundheitswirtschaft, begrüßte den Marketingspezialisten einer führenden Handelskette mit Namen Dennis und den Agentursprecher Tilman, kurz Til, der sich trotz der Hitze in einem schwarzen Designeranzug präsentierte und sich ständig mit einem weißen Taschentuch die Stirn abtupfte.
Wir stellten uns im Kreis zusammen, sprachen darüber, wie empfindlich die Deutschen doch auf Gefahren reagieren. Dennis’ Stichwort hierzu war Dampfkessel. 1830 sei bei uns die Dromosiderophobie ausgebrochen, wusste er zu berichten; die Angst davor, dass Dampfkessel explodieren. Helga war gut präpariert. Sie entgegnete, dass derzeit über zwanzig Prozent der Bevölkerung an Angststörungen erkrankten, und dass man alles tun müsse, um diese Quote zurückzudrängen. Das war Wasser auf die Mühlen der übrigen Anwesenden. Ich wendete ein, man dürfe die Angst als Urinstinkt nicht verteufeln, aber davon wollte niemand etwas hören. Der Tenor war, es gehe darum, die Ängste auszuschließen, gelassener zu werden. Hysterie, Schwarzmalerei und Untergangsstimmung im Ansatz zu ersticken, um gesellschaftlich stark zu sein. Wachstumsziele zu erreichen. – Ich fühlte mich plötzlich unwohl. Was meinten sie mit „den Ängsten“? Die erlernten Ängste, die überhandnahmen, die krankhaften Entwicklungen, die aus der Konfrontation mit einer komplizierten industriellen Welt erwuchsen?
Meine Aufgabe lag während der Veranstaltung nur darin, zum Thema hinzuführen, aber machte ich mir einen Reim auf die Rednerliste, so würde den Journalisten (die vermutlich allesamt Hofberichterstatter waren, wahrscheinlich in einem anderen Hotel untergebracht wurden und sich die Zeit bis zum Kongressbeginn möglicherweise am Strand oder am Pool vertrieben) in wenigen Stunden ein solides Gerüst aus Forschungsergebnissen und innovativen Behandlungsmethoden vorgeführt. Alle Pressevertreter veröffentlichten diese Informationen dann, verbreiteten sie an die Bürger, die, selbst weiter verunsichert, sich aufgefordert fühlten, ihre Ängste offensiv anzugehen, oder sie überhaupt erst an sich zu entdecken. Und dann war man bereits in die Falle getappt. Ein Teufelskreislauf. Und die Gesundheitsindustrie, meine Wenigkeit eingeschlossen, denn ich würde ja eine Menge Angstpatienten in meinen Sitzungen therapieren dürfen, rieb sich die Hände.
Das Unwohlsein angesichts dieser Perspektiven war bei mir so stark, dass ich mich, unter dem Vorwand, dringend telefonieren zu müssen, auf mein Zimmer begab. Die Redner bemerkten nichts von meiner Unpässlichkeit, so hatte ich den Eindruck. Sie sprachen übers Golfen, rissen kurz das Thema Alzheimer an, dann war ich auch schon aus der Lounge hinaus und hatte mich davongemacht. Mandy war mir hinterhergekommen. Am Fahrstuhl holte sie mich ein. Sie erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahte und sagte ihr, wie sehr ich mich doch freue, Teil dieses Kongresses zu sein. Das hatte sie keinen Verdacht schöpfen lassen und ich war ihr entkommen. Es war für mich wie eine Befreiung, als ich die Hotelzimmertür hinter mir schloss. Ich wollte mich aufs Bett legen und entspannen. Aber soweit kam ich gar nicht. Auf dem Sekretär entdeckte ich eine – wohl von der Agentur hinterlegte – edle schwarze Ledermappe. Beim ersten Hineinkommen hatte ich sie anscheinend übersehen oder man hatte sie später – nach meinem Hinausgehen – dort platziert. Ich nahm die Ledermappe hoch, besah sie von allen Seiten. Es war echtes, gutes, teures Leder. Ich öffnete den goldenen Reißverschluss an der Längsseite und klappte die Mappe auf. Der Inhalt versetzte mich in Staunen.
Ein schwerer Füllfederhalter, ein kleiner Notizblock, ein Druckbleistift. Das war, trotz der Exklusivität, noch recht normal für eine Veranstaltung dieser Kategorie. Aber im Visitenkartenfach steckten zwei in Aluminiumfolie eingeschweißte Pillensorten. Jede Folie enthielt drei Pillen. In der ersten Folie waren die Pillen recht groß und von roter Farbe. In der zweiten Folie waren die Pillen kleiner und von grüner Farbe.
Zwischen ihnen beiden steckte ein kleiner Zettel: Überzeugen Sie sich von unseren exzellenten Medikationen mit Retardwirkung. Nehmen Sie eine rote Pille alle 24 Stunden, wenn Sie unter Depressionen leiden. Nehmen Sie die grüne Pille alle 24 Stunden, wenn Sie unter Ängsten leiden. Sind Sie depressiv und leiden gleichsam unter Ängsten, nehmen Sie beide Pillen auf einmal. Sie beeinträchtigen sich nicht in ihrer Wirkung und schädigen nicht ihre Gesundheit.
Ich hielt es für einen Werbegag. Man kennt das. Die als Medikamentenschachteln getarnten Süßigkeiten, die man dann zu bestimmten Anlässen, zumeist Geburtstagen oder Jubiläen verschenkte. Ich legte die Mappe neben mich aufs Bett und versuchte zu entspannen. Es gelang mir nicht. Wirrwarr und Tumult im Kopf. Konnte es sein, dass sie uns tatsächlich einen ernstgemeinten Selbstversuch angeboten hatten? Wollten sie, dass wir – alle fünf Redner – diese Pillen schluckten? Hatte ich nur zu wenig Informationen und würde spätestens in zwei oder drei Stunden wissen, ob sie diesen Kongress nur ins Leben gerufen hatten, um ein neues Produkt, vielleicht sogar zwei neue Produkte am Markt zu etablieren?
Ich nahm die Folien mit den Pillen zur Hand, drehte sie zwischen den Fingern. Keine Haltbarkeitsdaten, keine Produktions-Kontrollnummern. Keine Umverpackung. Kein Beipackzettel. Das war doch hanebüchen. Wie sollten der Hersteller – wer immer es auch war – und die Agentur davon ausgehen, dass man wirklich diese Tabletten nahm? (Jetzt gleich oder irgendwann später.)
Ich war versucht, Mandy Conchita Williams anzurufen und sie danach zu fragen, aber ich ließ es dann doch. Ich wollte die Stimmung nicht verderben und wenn es sich tatsächlich nur um einen Reklamegag handelte, war ich bloßgestellt. Also blieb ich. Während des Kongresses würde es sehr schnell herauszufinden sein, ob dieses Zusammentreffen eine reine Werbeveranstaltung für neue Produkte zur Angsttherapie war.
Der Hörsaal im Gemeindezentrum Casal de Peguera fasste ungefähr dreihundert Personen und war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Gruppen-Stelldichein für Journalisten, Fotografen, Apotheker, Mediziner, Soziologen, Psychologen, Ergotherapeuten, Industrielle aus der Pharmabranche. Aus ganz Europa. Nein, weltweit. Mandy Conchita Williams hatte alles im Griff. Sie wies mit zwei Hostessen den Gästen die Plätze zu, verteilte Ausweise und Flyer und machte rundum einen bezaubernden Eindruck.
Und ich, als erster Redner nach der Begrüßungsansprache von Til an der Reihe, geriet ziemlich ins Schwitzen. Zumindest anfangs, denn ich hatte längere Zeit nicht mehr vor Publikum gesprochen, meine Stimme war plötzlich rau. Rau war gelinde gesagt. Sie war weg. Ich musste mehrfach Wasser trinken und mich räuspern. Sie wieder zurückholen. Aber dann, als lege sich ein Schalter um, war das Lampenfieber wie fortgeblasen, die spürbare Röte auf meinen Wangen nahm ab und meine Hände wurden trockener. Das Herzklopfen, das sich bis in die Schläfenfasern wie ein pochender Wurmfortsatz breitgemacht hatte, nahm ab. Vielleicht lag es an den freundlichen Worten meines Vorredners, dass er mich als Koryphäe auf dem Gebiet der Traumforschung bezeichnet hatte, dass er es danach als Glücksfall bezeichnete, dass ich heute Zeit gefunden hatte, um die Einführungsrede zum Thema Angst zu halten.
Ich holperte nicht in meiner Rede, ich hatte keinen Blackout und ich zog mein Programm auch nicht nur durch. Nach geschlagenen zwanzig Minuten Vortrag kam ich zum Ende und ein starker Applaus brandete auf. Ich hatte dem Treffen einen guten Einstieg verliehen, da durfte ich mir sicher sein.
Aber wie sah es mit der Unbescholtenheit des Symposiums aus? Gebannt folgte ich, in der ersten Reihe sitzend, ausnahmslos jedem Vortrag. Meine Befürchtungen waren grundlos gewesen. Niemand sprach im Detail über neue Medikamente, die gegen Depressionen oder Ängste eingesetzt werden sollten. Man referierte darüber, dass die Angst sich in der Hirnrinde speichere, dass man durch diese Erkenntnis überzeugt sein dürfe, dass Ängste kontrollierbar seien und nicht vom Patienten vergessen, aber doch unterdrückt werden könnten. Dass Ängste behandelbar seien, dass man mit einer engmaschig verzahnten Therapie nahezu angstfrei werden könne, insbesondere in diesem Zusammenhang wurden die Rufe nach einer unterstützenden Medikation laut. Einer Medikation, die eine gewisse Basis schaffe, eine Gelassenheit, um in der Welt zu sein. Diese Forderung stellten Carl-Maria, Dennis und Georg, jeder aus seiner Sicht interpretierend,