Geschichten vom Dachboden. Marc Brasil
Um 1895 lernt der 26-jährige Breslauer Offizier Alfred Schlenker die junge Maria Wittke kennen. Der schneidige junge Alfred hat sich für eine militärische Laufbahn entschieden und dient als Berufssoldat im 1.schlesischen Feld-Artillerie-Regiment von Peucker Nr.6. Maria entstammt einer Arbeiterfamilie und wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester Helene in der Ottostraße in Breslau. In seiner schicken Uniform beeindruckt der junge Schlenker Maria sehr und beide kommen sich bei den zahlreichen Spaziergängen im Scheitniger Park und den gemütlichen Cafes in der aufstrebenden Stadt näher. Ende des 19.Jahrhunderts heiraten Alfred und Maria Schlenker und beziehen eine kleine Wohnung in der Enderstrasse in Breslau. Am 23.9.1898 wird ihr Sohn Alfred Karl Hermann Schlenker in Breslau geboren, kurze Zeit später seine Schwester Käthe. Hermann Schlenker, Alfreds Bruder, übernimmt die Patenschaft für seinen Neffen Alfred junior und verbringt viel Zeit mit der Familie. Im Jahre 1903 tritt Alfred junior in die Vorschulklasse ein, 1904 kommt seine jüngste Schwester, die kleine Lotte zur Welt. Alfred junior wächst behütet mit seinen zwei jüngeren Schwestern auf. Im Jahr 1912 beendet Alfred Schlenker senior seinen aktiven Militärdienst und erhält 1913 eine Anstellung als Telegraphen-Assistent im Kaiserlichen Telegraphenamt in Breslau. Im gleichen Jahr kann die Familie an der Eröffnung der Jahrhunderthalle teilnehmen, zu dieser Zeit mit einem Kuppeldurchmesser von 65 Metern die größte freitragende Stahlbetonhalle der Welt, welche zum Gedenken an die Befreiungskriege gegen Napoleon gebaut wurde. Breslau ist mit einem modernen Straßenbahnnetz ausgestattet und Familie Schlenker kann bequem die großflächige Stadt befahren.
Alfred junior besucht seinen Onkel Hermann und seine Großeltern, das Ehepaar Wittke, die in der Ottostraße 32 in der Nähe der Schlenkers wohnen, so oft es geht. Insbesondere zu seinem Patenonkel Hermann entsteht eine tiefe Bindung. Aber auch Onkel Max Schlenker, der Abteilungsvorsteher in einem Breslauer Betrieb ist und ebenfalls im Stadtzentrum Breslaus wohnt, wird regelmäßig von Alfred und seinen Eltern besucht. Maria Schlenker, von ihrem Sohn Alfred liebevoll „Muttel“ genannt, kümmert sich um die Erziehung ihrer Kinder. In den letzten Jahren wird sie immer häufiger von starken Rückenschmerzen geplagt, weshalb Sie zum Bedauern Ihres Mannes und der Kinder an den Theaterbesuchen und Konzerten in der Jahrhunderthalle, sowie den Sonntagsspaziergängen durch den Scheitniger Park öfter nicht teilnehmen kann. Als Alfred Schlenker Anfang 1914 zum Ober-Telegraphensekretär befördert wird, kann sich die Familie vom Beamtengehalt des Vaters im Stadtzentrum Breslaus im 3.Stock der Sternstraße 106 eine größere Miet-Wohnung leisten. Von hier ist man in einigen Minuten am Hauptbahnhof und mit der Straßenbahn sind schnell alle Sehenswürdigkeiten der Stadt erreicht. Der botanische Garten liegt nur zwei Straßen weiter. Um die Ecke gibt es bei Kolonialwaren Josef Paul alles für den täglichen Gebrauch zu kaufen. Alfred Schlenker legt Wert auf eine musikalische Ausbildung seiner Kinder und Alfred junior erlernt während seiner Vorschulzeit das Klavier spielen. Ab der 5.Klasse besucht Alfred junior die städtische Oberrealschule in Breslau. An der neunjährigen Oberrealschule wird mit dem Abschluss des Reifezeugnisses in der 13.Klasse (Oberprima) für Alfred später ein Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften oder der neuen Sprachen für das Lehramt möglich sein. Mit seinen Schulkameraden Kurt Eitner, Gerhard Nobel, Kurt Badestein, Konrad Ludwig, Erich Greulich, John und Kolde verbringt der junge Alfred seine Freizeit mit Wanderausflügen oder sie sehen sich gemeinsam Ruderveranstaltungen in Breslau an. Durch Nachhilfe-Unterricht in den unteren Jahrgangsstufen verdient sich Alfred etwas Taschengeld hinzu. Im März 1914 darf Alfred während der Osterferien mit seinem Freund Georg Saft einen zweitägigen Ausflug nach Schmiedeberg in das Riesengebirge unternehmen. Am 16.April 1914 beginnt mit einer Feierlichkeit im Schulsaal für die Schüler der Oberrealschule das neue Schuljahr. Alfred junior ist 15 Jahre alt und tritt nun in die 11.Klasse der Oberstufe (Obersekunda) ein. Herr Direktor Dr. Fox stellt den neuen Oberlehrer Dr. Langwitz vor und wünscht in seiner Ansprache allen Lehrern und den knapp 600 Schülern ein erfolgreiches Schuljahr. Alfreds Schulkamerad Kurt Eitner ist wie Alfred gebürtiger Breslauer und beide verbindet eine tiefe Freundschaft. Beide lieben das Freihandzeichnen bei Zeichenlehrer Kik. Oberlehrer Biehler unterrichtet sie vier Stunden in der Woche in Deutsch. Für dieses Schuljahr kündigt er als Aufsatzthemen das althochdeutsche Hildebrandlied, Parzival der Gralsucher und den vaterländischen Dichter Walther von der Vogelweide an. Oberlehrer Suckel gibt Englisch- und Erdkundestunden. Als fremdsprachlichen Lesestoff möchte er mit der Klasse in diesem Jahr „Tom Brown’s Schooldays“ von Hughes lesen. Als zweite Fremdsprache unterrichtet Oberlehrer Dr. Steinwender vier Stunden Französisch pro Woche und gibt als Aufsatzthemen „Le Gendre de M. Poirier“ und „Grève de Forgerons“ von François Coppée vor. Der zweistündige Lateinunterricht wird durch Professor Dr. Tiete gelehrt. Weniger angenehm sind die Chemie-, Physik- und Mathestunden bei Professor Dr. Glatzel und Oberlehrer Dr. Kochan. Den dreistündigen Turnunterricht in der Schulturnhalle bei Turnlehrer Römsch schätzt der eher zierlich gebaute Alfred weniger als sein Freund Kurt Eitner. Am Samstag, den 18.Mai 1914, nehmen alle Klassen bei herrlichem Frühlingswetter am allgemeinen Schulausflug teil und Alfreds Klasse fährt mit der Bahn ins ca. 80 Kilometer entfernte Eulengebirge. Dort wird unter anderem die Festung Silberberg und der Bismarckturm auf der „Hohen Eule“ besichtigt. Für die Oberstufenklassen wird der Ausflug auch auf den folgenden Sonntag ausgedehnt. Am 15.Juni erhält die Oberrealschule hohen Besuch des Kultusministeriums. Der Geheime Regierungsrat Professor Dr. Klatt besichtigt die Schule und wohnt auch dem Unterricht in Alfreds Klasse bei.
Am 28.Juni 1914 nimmt die europäische Krise mit dem tödlichen Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand in Sarajevo seinen verhängnisvollen Lauf. Alfred genießt mit seinen Freunden seit 3.Juli noch die Sommerferien, als sich die politischen Ereignisse überschlagen und das Deutsche Reich am 31.Juli 1914 um ein Uhr mittags den „Zustand der drohenden Kriegsgefahr“ erklärt. Am darauf folgenden Tag wird die Mobilmachung für Heer und Flotte angeordnet und mit der Kriegserklärung an Russland beginnt für Deutschland der 1.Weltkrieg. Durch die gegenseitigen Bündnisverpflichtungen der europäischen Staaten erfolgen in den nächsten Tagen weitere gegenseitige Kriegserklärungen, die Frankreich, England und weitere Länder zu Kriegsgegnern des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten machen. In Breslau herrscht in diesen Tagen ein hektisches Treiben. Zehntausende Männer aus Breslau und der Umgebung werden einberufen oder melden sich als Kriegsfreiwillige in den Regimentskasernen der Stadt. Alfred Schlenker senior, der nun 43 Jahre alt ist, wird nicht zum Heeresdienst eingezogen, da er im Kaiserlichen Telegraphenamt eine wichtige Stelle einnimmt. An seinem Arbeitsplatz wird eine Überwachungsstelle eingerichtet und mit seinen Kollegen überprüft er im Schichtdienst die vom 7.Armeekorps im Durchgang befindlichen Telegramme auf Zulässigkeit und verdächtigem Inhalt. Für die Unterbringung der ungeheuren Menschenmengen werden von der Militärverwaltung umgehend viele öffentliche und private Gebäude in Breslau beansprucht. Alfreds Schule muss bereits ab 1.August für die Aufstellung einer Sanitätskompagnie dienen. Direktor Fox gibt bekannt, dass die dreisemestrigen Unterprimaner (12.Klasse) und die Oberprimaner (13.Klasse), welche in das Heer eintreten wollen, auf Anordnung des Ministers sofort ihre Reifeprüfung machen dürfen. Auch Alfreds Patenonkel Hermann Schlenker muss an diesem Tag abreisen. Er hat seine Einberufung ins schleswig-holsteinische Füsilier-Regiment Nr. 86 erhalten und muss sich bereits am 2.August in der Garnison in Flensburg melden. Der Abschied fällt schwer und er verspricht Alfred oft zu schreiben. Am 3.August teilt der Schuldirektor auf Anordnung der vorgesetzten Behörde mit, dass Schüler, welche aufgrund der Einberufung ihrer Väter vermehrt bei den Erntearbeiten helfen müssen, vom Unterricht freigestellt werden. Einige Tage später werden die Schulräume der