Ost und West. Magnus Dellwig

Ost und West - Magnus Dellwig


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da dankt er es der sozialistischen Gemeinschaft mit der Flucht in den Westen!<<

      Ja wirklich. Hans ist verblüfft. Damals, 1960, da gab es - zumindest hier auf dem thüringischen Land - wirklich noch ganz, ganz viele, die dem SED-Regime einen ehrlichen Vertrauensvorschuss entgegenbrachten. Der 17. Juni war bereits lange her. Und in der Zwischenzeit ging es fast allen tatsächlich besser! Na ja, fast allen außer den großen Bauern, die enteignet worden waren und dann in der LPG arbeiten mussten. Aber hier, im Thüringer Wald, da gab es doch überwiegend kleine Holzarbeiter und Landwirte. Die waren nach ein paar Jahren allmählich der Überzeugung, mit dem Sozialismus könne es tatsächlich noch etwas werden. Und irgendwie empfanden es die Menschen auf dem Land viel weniger als die meisten Städter als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, wenn die Partei viele Bereiche des alltäglichen Lebens sanft zu bestimmen suchte. Sie waren es von den Nazis noch ganz anders gewohnt. Hans erlebte das damals sehr hautnah. In Erfurt, auf der Schule, gab es zwar keine Lehrer, die Kritik geübt hätten. Aber unter den Schülern waren viele aus so genanntem guten Hause. Und die konnten ihren Mund allzu oft nicht darüber halten, was ihre Eltern - Ärzte und Anwälte, Beamte und Ingenieure - zu Hause über Ulbricht und seine >>Marionetten-Truppe der Russen in Ost-Berlin<< von sich gaben. Hans glaubte damals allmählich, der Grund für jene überhebliche Ablehnung sei weniger die Ablehnung des Sozialismus gewesen als vielmehr die Offensichtlichkeit, mit der die SED an der langen Leine aus Moskau geführt wurde. Und damit verband sich oftmals eine Bitterkeit der gut situierten Bürger darüber, dass die Eiszeit zwischen Ost und West während der fünfziger Jahre nicht den Hauch einer Aussicht auf die Widererlangung der deutschen Einheit ließ.

      Einheit. - Bei diesem Wort zuckt Hans zusammen und zwingt sich dazu, seinen Tagtraum einer weiteren Reise in die Vergangenheit zu beenden. Es ist ja gerade diese Einheit, die, je länger sie entbehrt werden musste, umso mehr aus dem Bewusstsein der Deutschen verschwand. Jetzt stehe ich hier und die Mauer ist gefallen! Hans schmunzelt. Vor einem Jahr noch, wer hätte es da denn nur im Entferntesten für möglich gehalten, dass der Schutzschild der Sowjetunion über dem SED-Regime tatsächlich fallen, und mit ihm die Mauer bröckeln sollte?

      Paula hat Hans nach der festen, herzlichen Umarmung wieder losgelassen. Sie lächelt ihn an. In ihren Augen steht ein Hauch von Träne. Da Hans jedoch weiß, dass es keine Träne aus Zorn, sondern eine Träne vor Rührung sein muss, bleibt er völlig entspannt.

      "Einfach unglaublich! Es ist ein Wahnsinn, Paula, wieder hier sein zu dürfen. Noch vor vier Wochen habe ich die Ereignisse bei den Leipziger Montagsdemonstrationen mit der sentimentalen Spannung des DDR-Flüchtlings verfolgt. Und dabei habe ich mir für keine Sekunde klar gemacht, dass es mich persönlich von heute auf morgen betreffen könnte, falls die Macht der Partei wirklich zerbröseln sollte. Aber jetzt durfte ich über die Autobahn zu dir kommen, mit nichts weiter als meinem Reisepass. Ich danke dir für die Einladung. Denn wir hätten euch natürlich genau so gerne bei uns zu Hause in Bochum aufgenommen. - Aber das weißt du ja. Haben wir ja am Telefon lang und breit besprochen. Das nächste Mal, bald, ganz bald, da kommt Ihr zu uns nach Westdeutschland.

      Ihr und wir - es ist als aller Erstes an der Zeit, dass sich die Familien kennen lernen, die sich hinter uns getrennten Geschwistern verbergen."

      "Stimmt genau, Hans. Herzlich willkommen zu Hause, hier bei uns in Großrettbach. Jetzt kommt zuerst mal rein, bei dem scheußlichen Nieselwetter da draußen."

      Paula tritt einen Schritt zurück und öffnet dabei weit die Türe. Mit einer auffordernden Armbewegung bittet sie Hans und seine Familie hinein. Jetzt erst bemerkt Hans, dass sich am rechten Ende des Gangs eine Türe geöffnet hat und Paulas Mann in den hellen Flur getreten ist. Etwas schüchtern steht er da, wirkt auf Hans so gänzlich unscheinbar. Paulas Mann Leopold kommt auch aus Großrettbach. So ist es kein Wunder, dass Hans ihn von früher zumindest von Ansehen kennt. Leo ist ein Jahr jünger als Paul und ein Stückchen kleiner als er, vielleicht gute eins fünfundsiebzig. Ein freundliches Gesicht mit schmalen Lippen, braunen Augen, einer breiten Stirn unter den dunkelblonden, streng gescheitelten Haaren erweckt bei Hans den Eindruck eines einfachen Menschen. Ehrgeiz, Biss sucht Hans in Leos Augen vergebens. Wie auch, denkt Hans für sich, bei einem Mann, der Buchhalter der örtlichen forstwirtschaftlichen Genossenschaft ist. So unspannend wie Leos Job, so unscheinbar ist seine Erscheinung. Und dennoch strahlt das sanfte Lächeln seines Schwagers auf Hans eine Ruhe aus, die nicht ohne Selbstbewusstsein ist. Für den Bruchteil einer Sekunde keimt in Hans der Neid, dass Leopold und Paula hier in den zurückliegenden Jahren ein nicht nur einfacheres Leben als er, sondern vor allem ein ausgeglichenes Leben geführt haben dürften. Nichts von alledem, womit sich Hans in seiner Stadt, in der Politik und der Verwaltung, in den zunehmend unangenehmeren Kontakten mit der Kommunalaufsicht wegen der bescheidenen Finanzlage seiner neuen Heimatstadt Bochum seit einiger Zeit so herumzuschlagen hat.

      Hans tut es seiner Schwester gleich und tritt einen Schritt zurück, um für Johanna und die Kinder Platz zu machen. Die haben in respektvollem Abstand gewartet und ohne ein Wort zu sagen die Begrüßungsszene zwischen Hans und seiner Schwester verfolgt. Johanna ist Paula gleich sympathisch. Ihr erster Gedanke ist die Hoffnung, dass diese Frau, wie sie eine innere Stärke ausstrahlt, in den folgenden zwei Tagen ihrem Hans durch die Ruhe ausführlicher Gespräche und durch die Freude des Wiedersehens ein wenig Abschalten, etwas Zufriedenheit verschaffen möge. Johanna verfolgt es seit Monaten mit Unbehagen, dass Hans nach langen Sitzungen der Fraktion oder ihrer Arbeitskreise und der dazugehörigen Ausschüsse immer abgespannter, entnervter, und leider auch verschlossener heimkehrt. Von der Vertrautheit aus den ersten Jahren ihrer Ehe ist immer weniger geblieben. Hans liebt es nicht, von der Arbeit zu kommen und sich darüber auslassen zu sollen, was sich denn am Tage Interessantes ereignet habe. Doch indem er immer mehr nur noch seine Ruhe haben möchte, sich mit einem guten Buch zurückziehen möchte, sind Johannas Gespräche und ebenso die der Kinder mit Hans immer spärlicher geworden. Daher hat sich Johanna mit Hans gefreut, als sich Paula am 11. November telefonisch meldete, ohne ein Wort der Anklage den Fall der Mauer als ein Glück für die Geschwister bezeichnete und dann Hans ganze Familie nach Thüringen einlud.

      "Guten Tag Paula. Ich freue mich richtig, und ich bin neugierig, dich kennen zu lernen. Hans hat mir immer gesagt, Du seiest eine bemerkenswerte Frau, weil du eine starke Frau und zugleich eine überzeugte Sozialistin bist. Deshalb glaube ich, dass sich unsere Familien eine Menge zu sagen haben werden."

      Johanna umarmt Paula ein wenig zaghaft. Sie möchte nicht aufdringlich wirken, gegenüber einer Frau, die bis heute ja noch nicht einen einzigen Spross der Familie Berger aus dem Ruhrgebiet persönlich kennen lernen durfte. Johanna war vor ihrer Abreise, ja sogar noch heute Morgen davon überzeugt, es werde nicht leicht werden, einen echten persönlichen Draht zwischen den diversen Mitgliedern der zwei Familien aufzubauen, wenn sie von Hans und Paula einmal absieht. Aber im Gegensatz dazu wächst in ihr beim Anblick ihrer Schwägerin der Optimismus, dass diese Frau gerade heraus reden, mit der aktuellen Situation der Familie genauso wie mit der Lage in der gesamten DDR umgehen werde. Johanna weiß, dass Paula das leichter fallen, ja sogar besser gelingen wird als ihrem Hans. Das stimmt sie zuversichtlich. Johanna nimmt sich vor, zu einer offenen, ungezwungenen Stimmung beizutragen, ohne sich mehr als nötig in tiefer schürfende Gespräche zwischen den Geschwistern über persönliche Wunden und gesellschaftspolitische Ansichten einzumischen. Insgeheim hofft sie, ihre Kinder und ebenso Paulas siebzehnjähriger Sohn Bert werden sich diese Zurückhaltung mit dem jugendlichen Recht der manchmal schroffen Neugierde nicht auferlegen.

      "Hallo Johanna. Du bist also die Frau, die sich in den letzten zwanzig Jahren mit meinem Bruder herumschlagen musste. Ich hoffe für Dich doch sehr, dass es dir besser gelungen ist als mir in unserer Jugend. Ich habe es einfach nie geschafft, mir einen vernünftigen Reim auf Hans persönliche Wünsche und seine politischen Ansichten zu machen. Jedenfalls fügte sich das für mich nie wirklich zu einem einheitlichen Bild von seiner Persönlichkeit zusammen. Aber der Hans von heute wird ein anderer sein als der junge Mann von 1960. Ich jedenfalls habe mich auf euren Besuch wahnsinnig gefreut. Und ich glaube fest daran, dass wir uns schon am Ende der nächsten zwei Tage besser verstehen werden, Deutschland besser verstehen werden als noch heute Nachmittag."

      Paula drückt Johanna nochmals feste die Hand und zieht sie zu sich in den Flur ihres Hauses hinein. Johanna


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