Nesthäkchen und ihre Enkel. Else Ury
das Holz klein machen«, belehrte sie das Kind. »So hat Mutter es immer gemacht und auch die Nachbarin macht es so.«
Marietta griff nach einem Messer. Sie schämte sich vor der Kleinen, daß sie, die soviel Ältere, das nicht wußte.
Das Holz war zäh, das Messer stumpf. Ritsch – da war es statt in das Holz in Mariettas ungeschickte Finger gegangen. Rotes Blut tropfte hernieder.
»Es nicht tun weh«, beruhigte sie das erschreckte Kind und machte mit ihrem Spitzentaschentuch einen Notverband. »Aber es sein besser, ich schicken euch unseren Diener. Und der Arzt muß kommen auch.«
»Und auch was zu essen«, erinnerte sie das kleine Mädchen.
»Zu essen, ja, Lotta. Meine Mutter wird schicken euch.« Es fiel Marietta plötzlich schwer auf die Seele, daß sie sich allein so weit entfernt hatte. Man würde sie suchen, sich um sie sorgen. Und hier hatte sie nicht einmal etwas nützen können. Unverantwortlich hatte sie gehandelt, ganz unüberlegt. Wäre es nicht viel richtiger gewesen, sie hätte von den Eltern Hilfe erbeten?
Die armen Menschen hier litten Hunger und Durst, und sie vermochte denselben nicht zu stillen. Eine Wahrheit ging dem reichen, verwöhnten Mädchen hier in dieser Einsamkeit auf: Man mußte lernen, man mußte selbst Hand anlegen können, sich nicht nur von der Dienerschaft abhängig machen. Es konnte Lebenslagen geben, in denen man auf sich selbst angewiesen war. Wollte man anderen Hilfe bringen, mußte man vor allem sich selbst zu helfen wissen.
»Fräulein, mich hungert« – erinnerte Lottchen die mit versonnenen Augen Dastehende.
»Wasser – nur einen kleinen Schluck Wasser!« kam es seufzend von den Lippen der Frau.
Marietta fuhr empor. »Ja, ja, ich gehen sofort. Ich senden Wasser, gute Wasser und Erfrischungen. Haben Sie einen Wunsch noch, liebe Frau?«
Die Kranke öffnete bei der weichen, mitleidigen Stimme mit Gewalt die fieberschweren Augen.
»Das Kind – das Kind«, flüsterte sie.
»O ja, Lotta wird erhalten Essen, gutes Essen«, versprach Marietta bereitwillig.
Die Kranke schüttelte den Kopf. Mühselig suchte sie die Worte. »Ich werd's nicht mehr lange machen – das Kind – was wird aus dem Kind – – –.« Dieser Gedanke schien sie in ihren Fieberträumen entsetzlich zu quälen.
»Wenn der Arzt wird kommen, Sie werden ganz gesund, liebe Frau.« Tränenschwer klang Mariettas Stimme. Der Jammer der Verlassenen griff ihr ans Herz.
»Ich will nicht mehr – ich kann nicht mehr – nur mein Kind – mein Lottchen – – –«
»Meine Mutter wird sorgen für ihr.« Dieselbe Mutterliebe, die aus diesen verängstigten, mühsamen Worten der Schwerkranken sprach, empfand ja auch ihre Mutter. Die Mutterliebe war reich und arm gemeinsam, verband sie miteinander.
Wieder schüttelte die Kranke das Haupt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu sprechen vermochte. Der Atem ging keuchend, stoßweise: »Nicht hier bleiben – das Kind soll fort – nach Deutschland – zu meiner Mutter – im – im lieben Schlesierland – Wasser – nur einen Tropfen Wasser – – –.« Ihre Gedanken begannen sich aufs neue zu verwirren.
So unerfahren das junge Mädchen war, sie sah, sie fühlte, daß hier noch ein anderer Gast bald die Hütte betreten würde – der unerbittliche Sensenmann.
»Bringe mir zurück zu meine Pferd, Lotta, daß ich kann schicken Hilfe«, wandte sie sich an das Kind. Noch einen Mitleidsblick zu der Ärmsten auf ihrem Blätterlager, dann stand Marietta wieder draußen in der glühenden Tropensonne.
»Welchen Weg wir müssen gehen, Lotta?«
Das Kind zuckte die Achsel.
»Ich weiß nicht«, sagte es schließlich nach längerer Überlegung.
Das junge Mädchen stand ratlos. Nach welcher Richtung sollte sie sich wenden? Die Lehmhütten, die einigen Anhalt boten, sahen alle eine wie die andere aus. Aber da waren ja die kleinen Negerkinder, die sich noch immer im Sande sielten, an denen waren sie vorhin vorübergekommen. Also mußte dieser Weg der richtige sein. Aber waren es auch dieselben Kinder? Die Negerkinder gleichen sich ja mit ihren schwarzwolligen Krausköpfchen wie ein Ei dem anderen. Auf gut Glück schlug Marietta den Weg an den spielenden Kindern vorüber ein. Wenn er sie nur heimbrachte, wenn er nur nicht in entgegengesetzte Richtung führte! Es war für einen Fremden gar nicht möglich, sich aus diesem Labyrinth der Kaffeeanpflanzungen mit seinen Kreuz- und Quergängen herauszufinden. Ein richtiger Irrgarten. Immer wieder stand man unschlüssig vor neuen Wegen. Dazu brannte die Sonne von Minute zu Minute glühender. Marietta, welche als mütterliches Erbteil die Tropentemperatur lange nicht so gut vertrug wie ihre Zwillingsschwester Anita, fühlte sich total erschöpft. Das Kind neben ihr weinte vor Hunger und konnte ihr absolut nichts nützen. Dazu empfand es Marietta als ein Unrecht, daß sie das Kind von dem Sterbelager der Mutter mitgenommen hatte. Aber allein hätte sie sich nie und nimmer in diese endlos grüne Wildnis hineingewagt. Noch nie in ihrem vierzehnjährigen Leben war sie einen Schritt außerhalb des Hauses allein gegangen.
Kein Mensch ringsum. Keine Plantagenarbeiter, die man um den Weg fragen konnte. Das Singen, das sie auf dem Hinweg vernommen, war verstummt. Es fehlte nicht viel, dann hätte Marietta es wie ihre kleine Begleiterin gemacht – geweint. Nur mit aller Gewalt hielt sie die Tränen zurück.
Sicher war sie länger, als der Hinweg betrug, gewandert. Es wurde ihr plötzlich zur furchtbaren Gewissheit, daß sie in entgegengesetzter Richtung ging. Aber auch dort mußte sie doch schließlich in bewohnte Gegenden kommen. Die Orlandos hatten, wie alle Plantagenbesitzer, ihr Sommerhaus auf ihrer Fazenda. Wenn sie wenigstens dorthin gelangte.
Lottchen war vor Hunger, Müdigkeit und Hitze zu keiner Auskunft mehr imstande. Schwer ließ sie sich von Marietta weiterziehen. Aber auch diese verließen die Kräfte. Unter einem breitzweigigen Kaffeeboskett, das einigermaßen Schatten bot, ließ sie sich, unfähig zum Weitergehen, nieder. Wie lange sie so gesessen, wußte sie nicht. Das Kind hatte das Köpfchen an ihre Schulter gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Alles still. Nur der heiße Tropenwind flüsterte mit den Blättern.
Da ein Laut, ein heller, schreiartiger. Er schreckte Marietta aus ihrem Dämmerzustand auf.
War es ein Vogel, der Jukano? Noch einmal – deutlicher – ein helles Gewieher war es – Pferde mußten in der Nähe sein. Marietta riß das schlummernde Kind empor. Sie ging dem Tone nach. Stimmen wurden laut – Rufe – deutlich, immer deutlicher zu unterscheiden – »Marietta – Marietta! – – –« Wie mit Engelszungen klang es an das Ohr des verirrten Mädchens.
»Hier – hier – – –.« Sie hatte nicht mehr die Kraft zum lauten Gegenruf. Aber der war auch nicht mehr nötig. Diego, der alte, treue Neger, stand plötzlich vor ihr. Weinend sank ihm das erschöpfte Mädchen in den Arm.
Diegos Freudenruf brachte alsbald die anderen zur Stelle. Vater und Mutter in größter Sorge und Aufregung. Anita fiel der Zwillingsschwester lachend und weinend um den Hals. Die Großmutter und Tante Margarida warteten im Auto auf der Landstraße, während die Dienerschaft die Plantagen rings in der Nähe des Gummibaumes, an dem Marietta das Pferd zurückgelassen, absuchten. Ein ganzes Ende davon entfernt, hatte Diego sie gefunden.
Vorläufig vermochte Marietta auf keine der Fragen, mit denen vor allem Anita sie bestürmte, Antwort zu geben. Der Mutter bleiches Antlitz gewahrend, hatte sie nur hervorgebracht: »Meine Mammi, solche Sorge habe ich euch gemacht!« Dann hatte sie völlig erschöpft die Augen geschlossen. Aber als man ihr in der kühlen Wohnung, zu der sie das Auto brachte, Eiskompressen auf die brennenden Schläfen legte und sie mit Früchten und Limonade erquicken wollte, stieß sie plötzlich das Gereichte erschreckt von sich.
»Das Kind – es hungert!« war das erste, was sie wieder sprach.
»Das Kind hat bereits eine Mahlzeit bekommen. Es ist wieder ganz vergnügt. Aber wie geht's dir, mein Liebling? Durchsichtig blaß siehst du aus.« Frau Ursel streichelte zärtlich die bleichen Wangen der Wiedergefundenen.
»Ach,