ÜBER BOCK UND STEIN NACH SANTIAGO. Johannes Borer

ÜBER BOCK UND STEIN NACH SANTIAGO - Johannes Borer


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nein! Das darf nicht wahr sein!« Auf dem Rucksack wimmelte es von schwarzen Ameisen. Da steht in allen Reiseführern, man solle den Rucksack wegen des Ungeziefers nicht auf den Boden stellen und ich hatte ihn mitten in ein Ameisennest geworfen. Wie kann man nur so blöd sein!

      Und wieso ist die Natur so ungerecht? Am Morgen hatte ich noch zwei Ameisen das Leben gerettet und nun attackierten ihre Verwandten meinen Rucksack. Oder wollten sie sich vielleicht bedanken und mir den Rucksack nach Los Arcos tragen? Wie dem auch sei, ich war nun einige Minuten damit beschäftigt, die schwarzen Krabbler von meinem Rucksack und aus dessen Innerem zu entfernen. Ständig kamen wieder irgendwo neue zum Vorschein und ich spickte sie zurück in die Natur. Immerhin hatten die vorbeikommenden Pilger etwas zu lachen.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Obwohl ich mein Bestes getan hatte, bekam die eine oder andere Ameise wohl doch Gelegenheit, mit mir zusammen die Herberge »Casa de Austria« in Los Arcos kennenzulernen. Ich war ziemlich spät dran und bekam eine der letzten Matratzen auf dem Dachboden. Kurz nach mir erschien auch Marek, ein tschechischer Manager, der fristlos entlassen worden war und nun auf dem Camino sein Leben überdenken wollte. Weil mein Knie heute sehr schmerzte, bot er mir an, meine Schmerzen durch Handauflegen zu lindern. Er versicherte mir, dass er diese Fähigkeit von seinem Vater geerbt habe und schon seit zwanzig Jahren Leute heile. Ich wollte noch etwas warten, weil ich ihm wegen ein paar Schmerzen nicht seine Kräfte rauben wollte, aber er versicherte mir, dass es genau umgekehrt sei. Wenn er mich erfolgreich heilen könne, erhalte er Kraft und Energie. Ich vertröstete ihn auf später. Leider sollte ich diesen interessanten und sympathischen Mann auf meinem Weg nicht wieder antreffen. Später informierten mich andere Pilger, dass er, um Geld zu sparen, oft in einem Biwaksack im Freien übernachtet hatte.

      Ich humpelte dann im Dorf umher, besichtigte die prunkvolle Kirche »Santa María« und wurde von einem französischen Ehepaar zu einer Sangria eingeladen. Heute hatte ich keine Lust auf ein Pilgermenü und begnügte mich mit einem einfachen Picknick in der Herberge. Die Zähne putzte ich mit den Fingern, weil ich meine Zahnbürste nicht fand.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Ein Nähkurs in Viana

      Am frühen Morgen zwangen mich die Querbalken auf dem Dachboden, gebückt herumzulaufen. Ein älterer Holländer hingegen hatte im Dunkeln für einen Moment die Balken vergessen und lag nun wie ein Käfer auf dem Rücken. Das war mir zwar nicht passiert, aber ich ertappte mich dabei, dass ich im gefahrlosen Frühstücksraum mit hohen Decken den Kaffee in gebückter Haltung zum Tisch trug. Wegen dieses Dachbodens hatte ich also für kurze Zeit meinen aufrechten Gang verloren.

      Schon deswegen konnte ich nicht hierbleiben und ich beschloss, um sieben Uhr dreißig aufzubrechen. Schon bald hatte ich Klara aus Passau eingeholt und lief mit ihr zusammen weiter. Sie war Ehefrau und Mutter dreier erwachsener Söhne und wollte den Jakobsweg unbedingt einmal alleine gehen. Wir führten interessante Gespräche über Gott und die Welt. Sie lief ohne Reiseführer und machte nie Pausen. Als ich mir in Sansol eine Kaffeepause gönnte, lief sie allein weiter.

      Am Morgen hatte es noch nach Regen ausgesehen, aber gegen Mittag kam die Sonne heraus und es wurde sehr heiß. Kurz vor Viana setzte ich mich zu anderen Pilgern an den Wegesrand und öffnete ein Dosenbier.

      »Jetzt fehlt nur noch die Zigarre«, witzelte Wolfgang, der sich mit Ulrike neben mich gesetzt hatte.

      Und in der Tat hatte ich auch diese dabei. Ich musste sie nur noch anzünden. So kam es, dass ich mit Bier und qualmender Cohiba in der Hitze am steilen Wegesrand saß und die schwitzenden Pilger beobachtete, die sich den Weg hochkämpften. Mein Anblick war wohl ziemlich provokativ und ich musste mir einige deftige Sprüche anhören. Einige Pilger fotografierten sogar mein lasterhaftes Tun.

      Vier Tage später kam eine Pilgerin in einer Herberge auf mich zu. »Dich kenne ich!«, sagte sie. »Du bist doch der Typ, der am

      Wegesrand vor Viana eine Zigarre geraucht hat!«

      So schnell hatte sich also mein guter Ruf in Rauch aufgelöst.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Auf dem letzten Wegstück traf ich Jean-Claude mit zwei Französinnen und Rüdiger, den ich seit Pamplona nicht mehr gesehen hatte. Wir stoppten alle in der ersten Herberge in Viana und wurden im gleichen Achtbettzimmer einquartiert.

      Die Französinnen Martine und Annie sorgten sich um meine Gesundheit, als sie sahen, wie ich mit einer langen Nadel in einer großen Blase an der Ferse herumstocherte. »Das kann schlimme Infektionen und Fieber auslösen!«, meinte die eine. »Wir zeigen dir jetzt, wie wir das in Frankreich machen!«, fügte die andere hinzu.

      Schon standen sie mit einem großen Erste-Hilfe-Set neben meinem Bett. Durch eine Nähnadel wurde ein dicker Faden gezogen, der mit einer Desinfektionsflüssigkeit getränkt war. Sie zogen die Nadel mit dem Faden durch meine Blase, cremten sie ein und umwickelten den Fuß mit viel Verbandsstoff. Die anderen Pilger standen um uns herum. Sie hatten alles beobachtet und fotografiert.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Dieser Nähkurs war auch für mich neu und ich war überzeugt, dass die Blase nach dieser professionellen und charmanten Behandlung nicht mehr schmerzen und bestimmt ganz schnell heilen würde.

      Eine Woche später wurde der Fuß schwarz und fiel ab. Der heilige Jakobus erschien mir und sagte: »Das ist die Strafe dafür, dass du auf dem Jakobsweg geraucht hast!«

      Ich erwachte aus meinem Alptraum, weil Ulrike oben rechts leicht schnarchte.

      Seitensprünge nach Logroño

      Nach einem einfachen Frühstück in der Herberge lief ich durch die Weinberge Richtung Hauptstadt des Rioja. Der Himmel war schwarz, aber immerhin regnete es noch nicht. Vor Logroño hatte ich das Haus von Maria verpasst, der Tochter der legendären Doña Felisa. Leider saß sie nicht mit einem Megaphon vor dem Haus, um ihren speziellen Pilgerstempel anzubieten. Ich vermutete, dass sie an der heutigen Ersten-Mai-Feier in Logroño teilnahm und dort für höhere Stempelgebühren demonstrierte – oder vielleicht hatten mich einfach die großen Kettenhunde in diesem Quartier abgelenkt. Kerkeling ist der Meinung, wer sich hier keinen Stempel hole, sei nicht gepilgert. Was soll’s, dann bin ich eben nur gewandert.

      Nach einem kurzen Kaffeestopp lief ich weiter durch Logroño. Falls es eine Erste-Mai-Demonstration gab, fand sie entweder in einer anderen Straße oder erst am Nachmittag statt. Auf dem asphaltierten Spazierweg außerhalb von Logroño wimmelte es von spanischen Spaziergängern, Joggern und Bikern. Sie nutzten den freien Tag für sportliche Aktivitäten. Viele Spanier wünschten mir einen »Buen camino«. Bei rücksichtslosen Bikern musste ich aufpassen, dass ich nicht überfahren wurde, und oft half nur noch ein Seitensprung nach rechts oder links. Schließlich wurde mir das Seitenspringen zu mühsam und ich lief neben dem Weg weiter. Kurz vor dem Naherholungsgebiet La Grajera fing es heftig an zu regnen. Ich rettete mich ins Restaurant beim Stausee und bestellte ein kleines Fläschchen Rioja.

      Bald war der Regen vorbei und die Sonne drückte durch die Wolken. Beschwingt und leicht angeheitert lief ich weiter durch die Rioja Weinberge bis nach Navarrete.

Über Bock und Stein nach Santiago

      Nach zweiundzwanzig Kilometern hatte ich mein Tagespensum erreicht und stoppte in der ersten Herberge des Dorfes. In der »La Casa del Peregrino« bekam ich ohne Probleme ein Bett für acht Euro. Leider installierte sich kurz darauf die Nervensäge aus Luxemburg direkt im Stockbett über mir. Der fünfunddreißigjährige Single nutzte die Ferien, um auf dem Jakobsweg seine langweiligen und konservativen Ansichten unter die Leute zu bringen. Pilger sind tolerant und können nicht immer davonlaufen. Er war nicht unsympathisch,


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