NO auf Bildungsreise. Bernd Franzinger
meinem Bruder und mir gepaukt. Jeden Tag hat sie zuerst die Hausaufgaben kontrolliert und uns dann Gedichte, Liedstrophen und Psalmen abgehört. Oder sie hat uns Texte diktiert, die wir dann solange schreiben mussten, bis sie fehlerfrei waren.«
Er grinst spöttisch. »Und später hat sie uns sogar englische Vokabeln abgehört, obwohl sie ja nur die Volksschule besucht hat und nie Englisch lernte. Sie hatte so eine grottenschlechte Aussprache. Ich hab sie deswegen andauernd ausgelacht, aber sie hat mir trotzdem keine Ruhe gelassen.«
Gero presst die Zähne so fest aufeinander, dass sich unter seiner Wangenhaut die Kaumuskeln wie kleine Hügel abzeichnen. »Immer dieses bescheuerte, stumpfsinnige Auswendiglernen. Ach Gott, hat mich das damals angeödet!«
»Lernen sollte eben Spaß machen.«
»Du hast es kapiert, NO. Nur in den modernen Spiel-und Spaß-Grundschulen erwerben die Kinder Lerninhalte, die sie auch dauerhaft präsent haben werden. Und nicht wie wir nur dieses eingetrichterte Pseudowissen, das man sofort nach der nächsten Klassenarbeit wieder vergessen hat.«
»Ihr habt doch bestimmt auch unnötiges Zeug in Erdkunde pauken müssen, nicht wahr?«
»Ja, sicher mussten wir uns allen möglichen geographischen Unsinn in die Birne hineindrücken.«
»Hauptstadt von Argentinien?«
Gero verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Machen wir jetzt ein Wissensquiz, oder wie?«
»Frage nicht, beantworte meine Fragen.«
»Okay. Buenos Aires.«
»Von Georgien?«
»Tiflis.«
»Indonesien?«
»Jakarta.«
»Höchster Berg der Erde?«
»Mount Everest.«
»Höhe?«
»8800 Meter und ein paar Zerquetschte.«
»8848«, korrigiert NO. »Höchster Berg Europas mit Höhenangabe.«
»Mont Blanc, circa 4600 Meter.«
»Du schwächelst: 4808.«
»Nenne mir drei afrikanische Flüsse.«
Gero kratzt sich an der Stirn. »Sambesi, Nil, Kongo, Niger.«
»Sehr gut, sogar einer mehr«, lobt NO. »Wann habt ihr diesen Lernstoff in der Schule durchgenommen?«
Grübelnd schiebt Gero die Unterlippe vor und kratzt sich am Hals »Na ja, irgendwann in der Mittelstufe wird das wohl gewesen sein. Ich schätze mal in der 6. oder 7. Klasse.«
»Wie alt warst du damals?«
Gero kippt den Kopf ein wenig schräg. »12 oder 13 Jahre.«
»Also vor 50 Jahren.«
»Ja, so ungefähr.«
»Und dann weißt du das alles heute noch so genau? Vorhin hast du doch behauptet, du hättest immer nur stumpfsinnig für die nächste Klassenarbeit gepaukt und gleich danach alles wieder vergessen.«
»War ja auch so«, beharrt Gero. »Ich verfüge eben über ein sehr gutes Allgemeinwissen.« Er grinst breit. »Und das habe ich mir nicht in der Schule, sondern im Laufe meines späteren Lebens angeeignet.«
NO reagiert nicht auf diese Behauptung. »Nun die Masterfrage: Übersetze das deutsche Verb ›verstehen‹ ins Französische und konjugiere es.«
»Auch das ist nicht schwer«, tönt Gero selbstbewusst: »Das Verb heißt ›comprende‹ und wird folgendermaßen konjugiert: je comprends, tu comprends, il comprend, nous comprenons, vouz comprenez, ils comprennent.«
»Wow – 100 Punkte«, ruft NO und klopft die Fäustchen aneinander. »Lehrstoff welcher Klassenstufe?«
»Etwa 7. Klasse«, spekuliert Gero.
»Ist also auch schon circa 50 Jahre her.«
»Na ja, ich hab eben seitdem ein paarmal in Frankreich Urlaub gemacht.«
»Und in Afrika auch?«
»Nee, da war ich noch nie. Wieso?«
»Weil du die Flüsse gewusst hast.«
»Ich hab eben eine breite Allgemeinbildung.«
»Ach so«, sagt NO und springt wie ein Hüpfball auf der Bank herum.
»Was’n los mit dir?«
»Nichts Besonderes, ich freue mich nur«, juchzt NO. »Du solltest dich auch öfter freuen. Freude ist nämlich etwas ganz, ganz Tolles! ›Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus‹. – Zitat von Demokrit, geboren vor 2500 Jahren.«
Gero grunzt amüsiert. »Du bist schon ein wundersamer kleiner Kerl.«
»Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn. Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn«, singt NO und dreht sich dabei im Kreis.
»Ich wundere mich auch gerade – und zwar über dich«, sagt der kleine Außerirdische, nachdem er seine Körperrotation wieder zum Stillstand gebracht hat.
»Wieso?«
»Na ja, weil du ›comprendre‹ richtig konjugieren kannst, aber trotzdem nichts verstehst.«
»Ich weiß nicht …«
NO fällt ihm ins Wort: »Ich weiß, dass ich nichts weiß – hat der griechische Philosoph Sokrates behauptet. Und ich weiß, dass du nichts weißt.«
Anschließend verschwindet NO-120856 genauso plötzlich, wie er aufgetaucht ist.
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