"Take Care!". Hermine Stampa-Rabe
eigentlich stark befahrenen Straße, die kaum Höhenunterschiede aufwies, fahren. Da aber Sonntag war, bewegte sich darauf zu dieser Zeit nur wenig Verkehr.
Kurz vor der Straßenkreuzung, bei der wir wieder auf unsere Route stoßen sollten, stand Sarah an dem großen Store. Für jede Pause war ich dankbar, so auch für diese.
„Ihr seid die beiden Ersten. Von den anderen hat mich noch keiner überholt.“
Wir legten eine größere Erholungs- und Trinkpause ein. Mir schoß ein Blitzgedanke durch den Kopf:
„Sarah, kannst Du mir heute abend sagen, was ich alles von meinem schweren Gepäck nach Hause schicken soll, um meine Tour zu einer Freude statt einer Schwerstarbeit werden zu lassen?“
„Ja, mache ich, aber erst nach dem Abendessen.“
Bald nahmen wir die letzten zwei Meilen in Angriff. Die hatten es aber in sich! Sarah hatte es uns schon auf dem vorherigen Campingplatz prophezeit. Wir steuerten auf den Fuß des weltberühmten Blue Ridge Parkway in den Appalachen zu.
Von diesem Gebirge, das aus vielen kleineren, runden und steilen Bergen bestand und sich durch ganz Virginia, Kentucky, Illinois bis zum Anfang von Missouri spannte, wußte ich und hoffte, es durchqueren zu können. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, erst dann an Freunde und Bekannte eine Karte zu senden, wenn ich diese große Herausforderung hinter mir hatte. Erst dann, so war mir klar, wußte ich, daß ich darauf hoffen konnte, auch die Rocky Mountains zu bestehen und meine Tour bis zum Pazifik zu schaffen. Noch war mir das lange nicht klar.
Unser Weg wand sich hinauf in diese wunderschöne und bewaldete Bergwelt. Rechts der zweispurigen Teerstraße ging es hoch und links sanft hinunter.
Am Beginn des Aufstiegs konnte ich noch fahren, mußte aber die letzten 200 m bis zu unserem heutigen Etappenziel schieben.
Vor einem großen Anwesen, das aus einem kleineren Wohnhaus und einem größeren Haus, das unten eine große Werkhalle aufwies, bestand, wurde Halt gemacht. Zwischen den beiden Häusern sah ich eine fast quadratische Rasenfläche mit einem großen Tisch und Bänken.
Von hier führte eine Treppe hoch auf das obere schmale Gebiet mit Rasen und Wäscheleine und einem Weg, der zu dem Eingang der oberen Wohnräume über der Werkhalle führte.
Unten an der vordersten Ecke des großen Gebäudes stand ein altes Fahrrad mit Packtaschen vor einem Wasserhahn. Ein Schild mit der Aufschrift: „Wasser für Fahrradfahrer“ sprang ins Auge, von keinem Fahrradfahrer zu übersehen.
Hier wohnte die bekannteste und beliebteste Frau der Vereinigten Staaten der Fahrradfahrer, die Cookie-Lady. Sarah kam bald nach unserer Ankunft mit ihr, einer freundlich blickenden kleinen Frau mit weißem Lockenkopf, zurück.
„Ihr seid also die Gruppe von Adventure Cycling aus Montana. Seid herzlich willkommen. In dem kleinen Haus darf sich jeder eine Schlafstelle aussuchen. Eine Küche ist vorhanden. Auch habe ich für euch schon eingekauft; denn eure Gruppenleiterin Sarah hatte euch per Telefon angemeldet.“
Jeder wurde von ihr liebenswürdig begrüßt. Als die Reihe an mich kam und sie hörte, daß ich aus Deutschland war, sagte sie:
„Aus Deutschland kommt heute noch eine Fahrradfahrerin zum Übernachten. Sie stammt aus Berlin. Alle eure Fahrräder könnt ihr anschließend in der Werkhalle vor Regen sicher und trocken unterstellen. Und nun wünsche ich euch allen einen angenehmen Aufenthalt. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch bei mir. Ich wohne dort oben.“
Alle Stuben strotzten an den Wänden von Danksagungen aus aller Welt. Es hingen Zeitungsausschnitte, Bilder von Fahrradfahrem, Sturzhelme, Trikots und andere hier zurückgelassene Gegenstände mit einer Widmung des Besitzers für die Cookie-Lady darauf.
Wir wohnten in mehreren gemütlich möblierten Wohnstuben, einer Küche, einem WC und einer im Freien befindlichen Dusche.
Das Mädchen, eine junge Polizistin aus Berlin, kam bald mit ihrem Wanderrad mit Trailer. Endlich bot sich mir die Möglichkeit, mich mal wieder auf Deutsch zu unterhalten. In meiner Muttersprache konnte ich alles ausdrücken, was mir auf Englisch nicht möglich war. Wir plauderten lange und glücklich miteinander.
Ein ungewohnt gemütlicher Abend kam hier auf uns zu, weil wir kein Zelt aufzustellen brauchten. Unser selbstgekochtes Abendessen verschlangen wir mit Heißhunger draußen auf der Terrasse im Abendsonnenschein.
Mit einem überfüllten Magen, weil ich nicht "nein" sagen konnte, saß ich hier auf einem Sofa, während sich die anderen überall verteilt beschäftigten. Wer wußte, wann wir es wieder so gemütlich haben werden?
Sarah erleichterte mein Gepäck. Dazu setzten wir uns beide im Schneidersitz auf den Fußboden. Während ich aus einer Packtasche nach der anderen Stück für Stück ausräumte und ihr alles einzeln in die Hand gab, begutachtete sie jedes Teil, wog es in ihrer Hand ab und entschied sich entweder fürs Mitnehmen oder fürs Nachhauseschicken. Auch mein neues Zelt kam auf den Stapel mit den Sachen, die nach Hause sollten. Nur das Nötigste blieb bei mir. Danach suchten wir uns alle in einem der Räume ein Plätzchen, wo wir unseren Schlafsack ausbreiten konnten. Ich nahm den Raum, an den das WC grenzte. Wer weiß, wer weiß.
8. Tag: Afton - Lexington (87 km) 764 km
Das Waschen erledigte ich am folgenden Morgen draußen vor dem Haus am Kaltwasserschlauch nur mit Gesichtanfeuchten und Zähneputzen. Das war Camping pur, auch wenn ich im Haus auf einem weichen Sofa schlafen durfte!
Da ich gleich alle meine aussortierten Sachen zur Post bringen wollte, warteten Sarah und ich bis kurz vor 8.00 Uhr, um dorthin zu gehen, während unsere anderen Kameraden schon aufbrachen.
Auf der Post erhielt ich als erstes einen ganz lieben Brief von Kläuschen aus Kiel. Zwei leere Paketkartons brauchte ich, um meine aussortierten Sachen zu verstauen und nach Kiel per Schiff auf die lange Reise zu schicken. Sie wogen zusammen sage und schreibe 15 Pfund! Ich hatte vor, mir in Lexington ein 2 Pfund leichtes neues Zelt anzuschaffen, um flott mit dem Rad unterwegs sein zu können.
Unsere Cookie-Lady kam auch noch persönlich herunter.
„Über euren Besuch habe ich mich sehr gefreut. Er brachte Abwechslung in meinen Tagesrhythmus. Take care für sie und ihre ganze Gruppe.“
Dann wandte sie sich persönlich an mich.
„Und sie möchte ich ganz herzlich bitten, mir aus Deutschland eine Postkarte zu schreiben.“
„Das verspreche ich ihnen. Vielen Dank für ihre liebenswürdige Aufnahme und alles Gute.“
Sie stand und winkte uns noch nach.
„Take care!“
In der Nacht hatte es tüchtig geregnet. Zu der Zeit durfte es das meiner Meinung nach auch. Jetzt lagen dichte Wolken über dem Blue Ridge Parkway. Warme Luft umgab uns auf dieser Seite der Bergkette. So radelte ich mit herrlich erleichtertem Rad die steile Steigung hoch. Hinter mir folgte Sarah.
Es war Montag, Arbeitstag. Dementsprechend verhielt es sich auch mit dem Autoverkehr auf der Höhenstraße (250), die in Serpentinen immer höher stieg. Oben angekommen, trennte sie sich vom Blue Ridge Parkway, den wir beide rechterhand in Angriff nahmen und der noch viel, viel, viel höher anstieg. Glücklicherweise gab es auf dieser Straße fast kein Auto.
Es entwickelte sich trotz der großen Höhenunterschiede mit meinem erleichterten Rad in dieser parkähnlichen Landschaft eine atemberaubende Fahrradfahrt. Allein dafür hatte es sich gelohnt, hierher zu kommen. Auf der Teerstraße fanden wir eine orangenfarbene zarte Eidechse. Wunderschöne und große Schmetterlinge waren in dieser Gegend in der Luft unterwegs. Geier kreisten in den Lüften. In den Bäumen krächzten hohl und dunkel die Raben.
Als Überraschung kam ein Auto mit einer Fotografin und fuhr neben jedem von uns einzeln her, um uns in jeder Situation zu fotografieren,