Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz

Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz


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auf der S-Bahn und als Einheitspreis bei U-Bahn, Straßenbahn und Bus. Es wird Ihnen vielleicht ganz lehrreich sein, zu hören, dass der S-Bahn-Tarif seit den zwanziger Jahren fast gleich geblieben war, was immer sich die Volkswirte der DDR bei diesem ökonomischen Unsinn gedacht haben mögen. Für einen Einkaufsausflug in die freie Welt, ausgestattet mit den bei der Bank rechtmäßig ertauschten und erwarteten oder erstandenen zweihundert Mark, könnte eine vierköpfige Familie runde 20 Ost an Fahrgeld loswerden. Ihr Korrespondent nimmt an, dass diese Regelung der Reiserei einen Dämpfer aufgesetzt hat. Menschenströme sieht man am 15 Januar 1990 jedenfalls nicht mehr in Westrichtung fahren oder aus ihr ankommen.

      Wir müssen noch beim lieben Geld bleiben. In dieser Woche hat die Staatsstreichregierung mit einer Preisreform begonnen. Wie es heißt, war Kinderbekleidung zu hoch subventioniert, nämlich mit zwei Millionen (ich habe diese Zahl ungeprüft aus einer Zeitung übernommen, gebe sie jedoch mit Zurückhaltung weiter. Zwei Millionen hat Ihre Yacht gekostet, wie man hört, will sagen, dass wir höher hinaufgehen müssen). Diese Preisstützungen sollen nunmehr wegfallen, oder sie sind es schon. Ersatzweise bekommt die Familie, die sich Kinder leistet - hier noch vergleichsweise sehr viele, trotz liberaler Abtreibungsgesetze -, fünfundvierzig Mark monatlich. Ob das wirklich reicht, um die gestrichenen Subventionierungen auszugleichen, um die lieben Kinderchen, die unvernünftigerweise in diese neue eisigkalte Welt gesetzt wurden, zu kleiden und zu beschuhen, werden die Familienväter und vor allem die Vielzahl der alleinstehenden Mütter feststellen müssen. Ferner sind schon Mieterhöhungen angekündigt, und die niedrigen Energiepreise sollen bedeutend angehoben werden; alles das sind Kleinigkeiten gegenüber den wirklichen Problemen, die eine Umwandlung öffentlichen Besitzes in Eigentum mit sich bringen wird; es würde sich um die enteigneten Liegenschaften, Häuser und Grundstücke in und um Berlin, in ganz erheblicher, heute kaum zu schätzender Anzahl, drehen. Hier zieht ein Dauerkonflikt am Himmel der Wiedervereinigung auf; denn ohne Frage werden die Westeigentümer mit dem Hinweis, dass ihnen auch Unrecht geschah, unbarmherzig zuschlagen, schon deshalb, weil sie in vielen Jahren der Umerziehung zum Geldverdiener gelernt haben, dass Freundschaft und Bruderliebe die eine und Geschäft eine ganz andere Sache sind. Warten wir es ab, ob die Politiker das Problem überhaupt begreifen, und wenn sie wider Erwarten begreifen sollten, wie werden sie es lösen?

      Aber fleißig ist die hiesige Volkskammer, das muss ihr der Neid lassen. Ab heute sind nämlich die Gesetze über „Joint Ventures" in Kraft. Wer will, der kann bis zu neunundvierzig Prozent Anteile an einem volkseigenen Betrieb erwerben, wer nicht will, könnte es auch. In Einzelfällen soll sogar ein höherer Kauf möglich gemacht werden. Sie erinnern sich vielleicht an eine meiner Bemerkungen, dass man auf Biegen und Brechen versuchen werde, zu verkaufen, was unverkäuflich. Im Grand Hotel, das mittlerweile zur Zentrale aller Wirtschaftsverhandlungen zwischen neutralen und weniger neutralen Unterhändlern geworden ist, mit kostspieligen Arbeitsessen und allem, was zu einem ordentlichen Umgang von Leuten gehört, die wirklich was zu sagen haben, also den Stillen im Lande, ist die Meinung unter Bankiers und Finanzmaklern über diese „Joint Ventures" geteilt. Leute, die ihr Kleingeld zählen sind skeptisch und unterziehen den Leichnam einer eingehenden Prüfung, ehe sie ihm einen Sarg zumessen. Diese Probleme sind nur politisch zu lösen, wird Ihrem Korrespondenten bedeutet, und keineswegs durch freundschaftliches Küssen auf Mund und Wangen, wie es gelegentlich dezent geübt wird, nicht hier, nicht im Foyer des Grand Hotel. Bankiers, pardon, diese Leute heißen nun schon Banker, küssen nicht. Unglaublich schnell reißen jetzt die Dämme der Unterwerfung, zuerst in der Sprache, aber die Volksbewegung war ja auch eine Befreiung der Sprache. Also? Vortrefflich. Es sind Leute wie Edzard Reuter hier gewesen, die sich gewiss nicht auf die Socken machen mit dem Ziel, eine Wüste fruchtbar zu machen; so ist er auch bald wieder abgereist.

      Ihr, wie immer, wohlaffektionierter ***

      16.01.1990

      Mein werter Herr Verleger,

      wundern Sie sich nicht, wie unregelmäßig meine Briefe bei Ihnen eintreffen? Das liegt nicht an der Post, der Deutschen, die Lenin, der Große, als Vorbild für den Aufbau des sowjetrussischen Kommunismus auserkoren hatte, sondern daran, wie Ihrem Korrespondenten die Einfälle zuwachsen. So habe ich eben den Stand der Entwicklung resümiert, allein für mich. Was denken die Leute, denkt das Volk, über alle diese Bewegungen, das freie Spiel der politischen Kräfte im plötzlich grenzenlosen Raum?

      Zunächst einmal ist deutlich an den Tag getreten, was Ihr Korrespondent mit seiner guten Nase am Abend des 4. November 1989 voraussah, die große Ernüchterung, und zwar auf beiden Seiten. Das Ausmaß ist aber doch erstaunlich, und ich hätte es nicht für möglich gehalten. Die lieben Brüder und Schwestern sind bei den Verwandten sozusagen in die Scheuer eingefallen und machen keine Anstalten, das im Wohnzimmer aufgeschlagene Notbett zu räumen, höchstens um den Nachfolger anzukündigen. Während diese armen Verwandten finden, dass sich die reichen Verwandten doch recht aufgeblasen bewegen, kommt man sich näher. Nimmt die Liebe im Bruder-und-Schwester-Bereich ab, so steigt der Sympathiepegel bei den Politikern, die in allen Lagern an den neuen Ketten schmieden, für die einen Brüder wie für die anderen. Die Volksbewegung zerfällt beschleunigter in zahllose Gruppen unterschiedlicher Interessen; die einen streben nach der liberalen Wirtschaftsfreiheit, andere, ängstlichere, wollen mit dirigistischen Mitteln den befürchteten Absturz dämpfen oder überhaupt eine neuartige Wirtschafts- und Sozialstruktur, nennen wir es Idee, installieren. Wieder andere möchten ungeschehen machen, was sie angerichtet haben. Die Zeit scheint den Aktiveren günstig, da der Westen bereit ist, sich seinen Sieg über den utopischen Ideenstaat, heiße er nun Sozialismus, Kommunismus, Diktatur des Proletariates oder die Diktatur der dominierenden Rasse, etwas kosten zu lassen. Die bis vor Kurzem noch schrittmachende Intelligenz, längst untermischt mit obskuren Kräften und zwielichtigen Figuren, erlebte wohl wieder einmal den Aufzug eines völlig neuen Zeitalters, mit herrlich freien Menschen. Sie sieht sich heute vom habgierigen Volk isoliert und ist von ihm abgestoßen. Sie sind nicht die Ersten, die das Volk enttäuscht hat, und sie werden nicht die letzten sein. Werfen Sie gefälligst einen Blick auf die Revolutionen, an denen wir als Europäer die westliche Sphäre des Kontinentes immer mal wieder und seit dem Zerfall des Ancien Regime genesen lassen wollten, so fällt die Mangelhaftigkeit all dieser Versuche leider sehr auf. Der gemischte Chor hiesiger in Panik geratener Revolutionseliten hat deshalb eine neue Tagessatzung erlassen. Sie lautet: Rettet die DDR! (sic!) Es soll eine Sammlungsbewegung entstehen. Was Gott mit Blick auf die Urheber dieser Parole verhindern wird. In unserem Falle wächst also die Kluft zwischen dem Mann auf der Straße und dem Wollen der Eliten. Das tritt nicht so leicht offen zutage, schon gar nicht spiegelt es sich in der Presse und in den Medien, aber im Hintergrund organisieren und formieren sich die Erben der kleinen Rebellion, der elende Bodensatz schäbiger Nutznießer, und die werden dann auch kassieren und Karrieren machen. Sie werden sich an das schon durchgebildete System anschmiegen und anlecken, dem Geschmeiß der Berufspolitiker, der Kaste, in die man aus dem Sumpf eines Kreis- oder Landesverbandes nach oben treibt, wie die Blase aus dem gärenden Morast. Versteht man sich zu halten, so bleibt man bis an das Ende seiner Tage in höchst angenehmen Lebensumständen. Und Sie kennen die fetten und älter werdenden Fressen, die uns von den Kathedern der Wahlveranstaltungen angrinsen, die vorsichtig lavierenden und grimassierenden, die schimpfenden und tröstenden, die uns gefährlich einschläfernden Clowns!

      Zu allem Unglück ist dieses Handwerk leicht zu erlernen. Der intellektuelle liberale Kern der Bewegung, das Neue Forum und die sektiererische Linke, oder sagen wir lieber, einige Gruppen dieses Spektrums, Gruppen, die vielleicht gerade soviel Mitglieder zählen, wie ich Finger an einer Hand habe, haben keineswegs vor, die ihm im Grunde doch liebe und teure DDR einem kapitalistischen Markt zu überlassen. Er sucht nach eigenen Formen, betrachtet sich als Erbe genau des Staates, den er nicht gewollt hat. Es ist eine unglaubliche Paradoxie eingetreten. Das Volk aber will keine selbständige DDR oder auch bloß einen reformierten Nachfolgestaat, nicht einmal den losen Verbund mit dem anderen deutschen Teilstaat will es. Vor allem will es keinen sozialistischen Staat, und diese Grundhaltung könnte die Sozialdemokratie bei den bevorstehenden Wahlen noch zu spüren bekommen, eine SPD, die mit irgendeiner Art Sozialismus nichts mehr am Hut hat. "Lieber Kohl-Plantage, als sozialistische Versuchsfarm" schreit es jetzt von den Plakaten der Demonstranten. Die Altparteien, wie SED/PDS, auf diesen Wandel werden wir noch zu sprechen


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