Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

Dame in Weiß - Helmut H. Schulz


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war es euer bestes Jahr?«

      »Von der Perspektive her«, sie gebrauchte einen damals unbekannten Begriff, ohne sich dieser Tatsache bewusst zu sein. Erst nach meinem Hinweis erklärte sie: »Also dann nenne es Zukunftserwartung, wir hatten eine große Hoffnung Hannes.«

      Sie nannte mich selten beim Namen, schon gar nicht bei meinem vollständigen. Namen, tat sie es wirklich einmal, dann klang es sonderbar und förmlich.

      »Wir reisten mit einem Schiff nach. Norwegen. Es war herrlich. Dein Vater kaufte ein Doppelgrundstück. Wir wollten in einem Jahr oder vielleicht auch in zwei Jahren ein Haus bauen.«

      Sie unterbrach sich, um ihr Haar zurückzustreichen, und presste die Lippen zusammen, sodass auf ihrer Oberlippe eine senkrechte Schraffur entstand.

      »Daraus wurde dann nichts.«

      . Sie warf mir einen empörten Blick zu, wendete sich kurz ab, um mich sofort wieder anzusehen, eine ihrer typischen Bewegungen, mit denen sie Missfallen ausdrückte.

      »Ganz recht, daraus wurde nichts«, sagte sie. »Du sprichst das mit einer Befriedigung aus, die mich befremdet.«

      Wirklich empfand ich Befriedigung darüber, dass diese Hoffnungen zunichtegemacht worden waren. Unerträglich wäre es gewesen, hätte sich diese Mittelmäßigkeit mit einem kräftigen Schuss sozialem Dünkel auch noch in einer kleinbürgerlichen Leistung durchgesetzt. Wie alles gekommen war, darin lag, aus der Entfernung gesehen, etwas Korrigierendes.

      Die von Verena erwähnte Urkunde musste meinen Eltern ein Gefühl des Gebrauchtwerdens vermittelt haben: Im Kampf um die Sicherung des deutschen Lebensraumes stand der Arbeitsbeauftragte des Volkes Stadel im Ehrendienst in der Westmark. Deutschland wird leben, weil sich immer Männer finden, die ihre Arbeit Deutschland weihen.

      »Mein Junge, glaube ja nicht, wir hätten keine Visionen gehabt. Die Träume in Deutschland zu untersuchen hieße, eine Menge über uns zu erfahren. Man sollte den Deutschen überhaupt verbieten, zu träumen oder Tagebücher zu führen. Soldaten dürfen es ja auch nicht, und sicherlich mit gutem Grund.«

      Zum ersten Mal redete sie derart entschieden und bitter über diese dunkle Seite ihrer Erinnerungen. Die Lehrerstochter hätte mit Recht von sich sagen können, dass ihr Leben in zwei Kriegen und den Krisen dazwischen vergangen war.

      Sie seufzte: »Neunzehnhundertachtzehn kam ich aus der Gemeindeschule, so hieß die Schule damals, zum Kriegsende und zu den Revolutionswirren«, sie gebrauchte das Wort, wie es passiver und undifferenzierter nicht geht: »Der Sieger aus solcher Art Wirren setzt dann auch immer die Norm.«

      Verena erwartete einen Einwand; da ich schwieg; bemerkte sie: »Du bevormundest mich heute nicht? Bist du krank?« Und da ich weiter schwieg, »mir blieb damals keine Wahl. Ich musste arbeiten.«

      Ich hätte das Gespräch gern abgebrochen, zog ein Buch aus dem Regal, das in Griffnähe stand, und las den Titel. Ein Balzac, wie sie überhaupt und ausschließlich die alten Bücher las. Seit Jahren erschloss sie sich mit berechnender Absicht keine jüngeren Autoren.

      »Ich ging zu Max Hirsch, du erinnerst dich.« Als ob ich mich einer Zeit hätte erinnern können, in der ich noch nicht geboren und sie ein vierzehnjähriges Mädchen war. »Max Hirsch war ein Konfektionär; alle Konfektionäre in Berlin waren damals Juden, oder fast alle«, schneller Blick zu mir. »Ich lernte Expedientin, aber ich muss sagen, bei Max Hirsch habe ich herzlich wenig gelernt. Dafür habe ich umso öfter das Dienstmädchen gespielt.«

      Sie legte eine Pause ein, um uns den Rest Tee aus der Kanne einzugießen, schüttete Zucker in die Tasse und rührte mit ihrer zarten und gebrechlichen Hand den Tasseninhalt so lange um, bis sich der Zucker gelöst hatte. »Du kennst das«, sie machte mich zum Komplizen, wie immer, und wie immer konnte ich mich nicht davon befreien, denn es war meine Mutter, die berichtete, der ich keine grobe Lüge zutrauen durfte. »Ich habe es dir oft erzählt, die Scherben im Abwaschwasser, damit ich mich schneiden sollte ...

      »Was besagt das schon? Die Leute waren deine Arbeitgeber, zufällig sind es Juden gewesen. Deine Feindschaft hatte doch nichts mit der Rasse zu tun.«

      Sie tat erstaunt. »Na hör mal, ich hätte eine persönliche Feindschaft gegen Juden gehabt? Nicht die Spur. Ich kann nur sagen, was ich weiß. Die ganze Sippschaft war hinter den weiblichen Angestellten her, hinter uns jungen Mädchen.« Sie ließ die Distanzierung folgen: »Es versteht sich übrigens, dass ich und niemand aus unserer Familie mit dem einverstanden gewesen ist, was dann kam. Aber der Sache nach, im Prinzip? Juden sind anders, ich habe sie erlebt. Und weshalb machen diese Leute auch heute noch und überall, selbst in Amerika, so unangenehm auf sich aufmerksam? Und in Palästina? Und auch bei den Russen - das weiß man ja alles.«

      Meine Versuche, sie zu unterbrechen, wehrte sie ab: »Nein, nein, wir stimmen ja völlig überein, man ist zu weit, gegangen.« Sie nahm mir rasch den Balzac aus der Hand und leitete in stilleres Wasser über: »Ich lese noch einmal diese großen Romane, du weißt?«

      »Wie oft hast du Vater Goriot schon gelesen?«

      »Oft. Ich fürchte, es ist jetzt das letzte Mal ...«

      In jenem Jahr ihrer Kraft-durch-Freude-Reise in die Fjorde Norwegens konnte ich noch nicht lesen, und mein Großvater richtete sein Bemühen auch nicht darauf, mir diese Kunst beizubringen. Sein Haus in Hammelspring hat sich mir fest eingeprägt: Es ist ein zweistöckiges Haus, aber anders als Bauernhäuser, im Gutsherrenstil der Gründerzeit errichtet. In der Mitte der Fensterfront liegt eine Auffahrt; zwei verputzte Säulen tragen einen vorspringenden Giebel. An den Ecken stehen oben zwei Amphoren. Im Untergeschoss ähnelt es den bäuerlichen Häusern. Arbeitszimmer, Wohnzimmer mit Flügel und Harmonium nehmen das Untergeschoss ein. In der Diele hängt ein großes Ölgemälde meines Großvaters in der Uniform eines Oberleutnants der Garde. Ein kleineres zeigt meine Großmutter. Dort steht auch ein Gewehrschrank mit dem Degen meines Großvaters.

      Auf mich hat das Haus immer einen bedeutenden Eindruck gemacht, es schien mir einem Schloss ähnlicher als einem Wohnhaus, mit vielen Zimmern, Treppen, Böden und Kellern, vollgestopft mit Möbeln und unbrauchbarem Gerümpel. Bajonette, alte Grabplatten, ausgestopfte Tiere und seltsame Geräte verstaubten in diesem Haus. Es war nicht durch einen Zaun seitlich abgegrenzt, sondern durch eine Quadermasse aus Feldsteinen. In den Ritzen wucherten Efeu, Dornengestrüpp und Farne, schossen Birken hoch, und alles zusammen bedeckte die Mauer grün und undurchdringlich. Durch eine hölzerne Tür kam man in den Garten, genauer gesagt, in den Friedhofsgarten mit einer kleinen alten Kapelle, immer unverschlossen, und dem Beinhaus. Die ganze Anlage stammte aus der Zeit, wo der Lehrer das Amt des Kantors mit versah, und möglicherweise hatte das schlossähnliche Haus einmal als Pfarrei gedient.

      »Dass du dich daran erinnern kannst«, sagte Verena, »aber du hast recht. Es war ein merkwürdiges Haus.«

      Schulleiter oder Schulrektor, wie er offiziell hieß, war mein Großvater, ein Mann von Größe und Selbstbewusstsein, der stets korrekt gekleidet ging, in dunkelgrauen Anzügen, Zugstiefeln und dünnen, farblosen Schlipsen.

      »Wo bist du eigentlich lieber gewesen, bei meinem Vater oder bei dem alten Stadel?«

      »Bei Mattias Stadel.« Stadels Haus befand sich im Ausbau des Dorfes Wendisch-Rietz, unweit der alten Spree. Kam mein Großvater in sein gemütliches schilfgedecktes Haus, so schlüpfte er aus seinen Schuhen, zurück in die Pantinen. Ihn umgab ein Hauch Unternehmungslust und Spätgründertum. Er verkörperte mir damals den Begriff Autorität, wenn er mit der Sense Schwad um Schwad legte, anhielt, das Blatt schärfte, wenn er in seinem Kahn saß und die Posen der Angeln beobachtete. Und dann umgab ihn natürlich auch die Aura des weit gereisten Seemanns, nicht vergleichbar mit den Leistungen eines Dorfschullehrers.

      »Wenn du nur einen Tag bei dem alten Stadel warst, hattest du beinahe alles verlernt«, sagte Verena. »Du benahmst dich am Tisch wie ein Affe, als gäbe es weder Messer noch Gabel.«

      Das freilich gab es bei Studienrats nicht. Wäre nicht das Gefühl des Auserwähltseins gewesen, in diesem wunderbaren schlossartigen Bau zu leben, und wären nicht die freundlichen Großeltern Arzt gewesen,


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