Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
Betrieb stets wahnsinnig viel um die Ohren, so dass er meistens erst spät in der Nacht nachhause in seine Großschönauer Villa heimkehrte, die diese ganze Zeit über eine unruhige Baustelle darstellte. Deshalb sahen sich die Liebenden nur an den Wochenenden, doch auch dies nicht regelmäßig.
Glücklicherweise waren die Kommunikationsmedien in den „Neuen Bundesländern“ inzwischen auf einen befriedigenderen Stand gebracht worden, so dass sie fast jeden Tag miteinander telefonieren konnten. Wauer hatte sich zudem ein schnelles Sportauto der Marke „Audi“ zugelegt, mit dem er auf der im Rahmen des gigantischen Aufbauwerkes „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit“ kürzlich freigegebenen, nagelneuen „Spreewaldautobahn“ von Berlin nach Cottbus die deutsche Hauptstadt in knapp drei Stunden erreichen konnte. Oft war er freitags spätabends noch losgefahren, um zu seiner geliebten Schwangeren zu kommen.
Es war „seine“ dritte Schwangerschaft, doch darüber schwieg er selbstverständlich, wenn er in Berlin war. Aber er konnte nicht ganz verhindern, dass er bei der Betrachtung ihrer beachtlichen Rundungen gelegentlich an die verrückte Zeit mit Helga dachte, die ihn bis zu ihrer Entbindung als geradezu sexsüchtige Schwangere regelmäßig seiner Wohnung in der Libauer Straße, nahe des S-Bahnhofs Warschauer Straße, besucht und es dort ziemlich wild mit ihm getrieben hatte. Es war damals freilich nicht sein Kind gewesen, mit dem sie schwanger ging. Während der Zeit ihrer Trennung hatte sie ihren Kopf durchgesetzt und sich von ihrem Mann schwängern lassen. Als er dann sein Vorhaben, nach dem Westen abzuhauen, an jenem denkwürdigen Budapester Abend aufgegeben und sich gleich nach seiner Rückkehr bei ihr meldete, hatte er diese verrückten Monate mit ihr erlebt. Seither liebte er schwangere Frauen außerordentlich und wurde immer ganz unruhig, wo auch immer er eine sah.
Im neuen Gesamtdeutschland verlief sogar eine Schwangerschaft ganz anders, als in den so genannten sozialistischen Zeiten. Die Krankenhäuser waren mit neuartigen, komfortablen Geburtsabteilungen ausgestattet, welche die Frauen, die ein Kind erwarteten, vorher besichtigen konnten, um sich auszusuchen, auf welche Weise sie es zur Welt bringen wollten. Möglich war das auf einem ganz normalen, jedoch vielfach verstell- und anpassbaren Geburtsstuhl, aber auch unter Wasser in einem Geburtsbecken, auf einem Ringhocker oder an einer Sprossenwand; hängend, liegend oder hockend, je nachdem, wie es der Gebärenden am angenehmsten war.
Wie anders hatte ihm das seine erste Frau Barbara von der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lothar berichtet. Damals, 1972, lagen gleich mehrere niedergekommene Frauen in einem Raum, nur durch spanische Wände voneinander getrennt. Lediglich zum eigentlichen Geburtsakt wurden sie dann in den Kreißsaal geholt und auf den berüchtigten „Pflaumenbaum“ gelegt. Und die Kindesväter wurden an der Kliniktür kurz angebunden abgewiesen und nach Hause geschickt. Dennoch, oder vielleicht deswegen, konnte die DDR eine der niedrigsten Sterblichkeitsraten bei Säuglingen nachweisen.
An der Geburt seines zweiten Kindes wollte Wauer aber unbedingt teilnehmen. Er hatte Sibylle darum gebeten und sie hatte ohne weitere Diskussionen zugesagt. Wie gerne wäre er auch früher schon dabeigewesen, bei Lothar oder sogar bei seiner „Hexe“ Helga. Wie gut aber, dachte er rückblickend, dass alles genau so gekommen war, wie es gekommen war.
Bereits im April war eine Chorionzottenbiopsie durchgeführt worden; nunmehr medizinische Routine bei Schwangeren über fünfunddreißig Jahre. Alles war gut gewesen. Auf die im Mai angebotene Fruchtwasseruntersuchung und einen Triple-Test hatte Sibylle jedoch verzichtet. Sie hatten sich natürlich beide belesen, welche Risiken für „ältere“ Ehepaare bei der Kinderzeugung bestanden. Gerade bei ihm, dem Nochkriegsgeborenen, der als Kind und Jugendlicher in einer Atmosphäre von mehr als weltweit tausend überirdischen Atombombenversuchen aufgewachsen war, bestand die Gefahr der Schädigung der Fortpflanzungschromosomen in besonderem Maße. Dennoch hatte er Sibylles Entscheidung unterstützt, während der Schwangerschaft nichts über Erbkrankheiten, Chromosomenstörungen, Fehlbildungen oder ein Down-Syndrom ihres Kindes wissen zu wollen.
Sie hatten auch eine Weile gezögert, sich das Geschlecht ihres künftigen Ablegers mitteilen zu lassen. Schließlich fanden sie es im Hinblick auf alle notwendigen Vorbereitungen dann doch vernünftiger, Bescheid zu wissen. Die Ultraschallbilder, die regelmäßig erstellt wurden, waren inzwischen so hochauflösend, dass eine diesbezügliche Vorhersage bereits nach der zweiten Pflichtuntersuchung keinerlei Problem mehr darstellte. Zur Vorbereitung seiner Teilnahme an der Entbindung musste Wauer nun auch an einem Geburtslehrgang für die werdenden Mütter und Väter teilnehmen. Dabei war er der Älteste gewesen. Nur noch einer der teilnehmenden Männer war um die Vierzig. Aber Wauer war es inzwischen egal, zumal die westdeutsche Regenbogenpresse immer wieder darüber berichtete, warum und auf welche Weise prominente Männer in fortgeschrittenem Alter Kinder gezeugt hatten und stolze Väter geworden waren. Einige von ihnen kannte Wauer sogar noch aus seiner Bonner und Berliner Parlamentszeit persönlich.
Der Anruf, dass es endlich soweit war, erreichte ihn während einer Sitzung des Bauausschusses, welcher an diesem Abend im schönen Neorennaissancebau des Zittauer Rathauses stattfand. Der Zittauer Carl August Schramm, ein Schüler des Preußen Friedrich Schinkel, hatte es nach den 1833 von Schinkel erstellten Entwürfen im Auftrag des Zittauer Rates ebenso wie die im Siebenjährigen Krieg zerstörte Johanniskirche wieder aufgebaut. Sibylles Schwester Christin war am Apparat gewesen. Wauer war froh, dass er an diesem Abend noch in der Kreisstadt geweilt hatte, und sich nicht bereits zuhause in Großschönau befand.
Er verließ die Sitzung unverzüglich, nachdem er seinem Skatbruder und Kreisratskollegen Heyer sowie dem Vorsitzenden den Grund für seinen hastigen Aufbruch mitgeteilt hatte. Kurz vor 22 Uhr erreichte er Berlin. Die Schwestern warteten bereits auf den Krankentransport. Wauer hatte einen neuen Rekord aufgestellt, indem er es vom Zittauer Rathaus in die Strausberger Straße in Berlin Friedrichshain in zwei Stunden und 25 Minuten schaffte. Das verdankte er dem „Aufbau Ost“ und der Tatsache, dass an diesem Dienstagabend sowohl auf der B 115 nach Forst wie auf der neuen „Spreewaldautobahn“ nur wenige PKW und LKW unterwegs gewesen waren.
Kaum hatte er Sibylle das Begrüßungsküsschen verabreicht, klingelte der Krankentransporter, der auch Sibylles Tasche mitnahm. Wauer fuhr die kurze Strecke zum Friedrichshainer Krankenhaus gemeinsam mit Christin hinterher. In den zweiten Stock zur Entbindungsstation gelangten alle gemeinsam mit dem Aufzug. Nur während der Aufnahmeformalitäten und der Einweisung Sibylles in ihr Zimmer wurden sie für ein paar Minuten getrennt.
Während die Zeitabstände zwischen den Wehen immer kürzer wurden, machten die Schwestern noch einmal eine Ultraschallaufnahme und Wauer und Christin konnten zusammen mit der Niederkommenden das ihnen auf dem Bildschirm riesig vorkommende Kind betrachten, das nun mit Macht in diese Welt drängte.
Dann erschien die ihnen bereits aus den Geburtslehrgängen bekannte Hebamme und erläuterte dem Paar noch einmal die adäquaten Verhaltensweisen für den optimalen Ablauf der Geburt. Sibylle wurde gefragt, ob sie noch einmal ein schönes warmes Bad wünsche. Davon erhoffte sie sich, inzwischen ziemlich regelmäßig von krampfartig schmerzhaften Wehen heimgesucht, offenbar einige Linderung. Wauer auf der einen und Christin auf der anderen Seite der Wanne hielten Sibylles Hände. Mittlerweile zeigte die Uhr zwei. Es war nun bereits der 15. November, ein Mittwoch.
Sie erfuhren, dass zur gleichen Zeit noch zwei weitere Geburten vorbereitet wurden, bemerkten aber nichts weiter davon. Nur die Hebamme war anscheinend schwer beschäftigt, kam jedoch noch einmal kurz nachsehen und empfahl, dass die Gebärende lieber noch einmal aufstehen und so lange wie möglich herumlaufen sollte, bis sich der Muttermund signifikant geöffnet habe und der Fruchtblasensprung bevorstehe. Sibylle gehorchte, und einen etwas großen, weißen Bademantel des Krankenhauses um sich geschlungen, wanderten die Drei eine Weile den Korridor der Entbindungsstation auf und ab.
Wauers Herz schlug bis zum Hals und Sibylle stöhnte jetzt laut bei jedem neuen Wehenschub. Schließlich war es endlich soweit. Die Fruchtblase war offenbar aufgegangen, denn eine gelbliche Flüssigkeit war an Sibylles Schenkeln heruntergelaufen. Wauer und Christin gerieten in helle Aufregung, während die herbeigerufene Hebamme ganz gelassen blieb. Sibylle hingegen schien offenbar schon in einer anderen Welt zu weilen.
Ins Geburtszimmer durfte nur noch Wauer mit, der zu diesem Zweck einen grünen Kittel übergestreift bekam, nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen hatte. Er war