Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
wird zu unseren Lebzeiten wohl niemals ans Tageslicht gelangen. Außerdem: Nicht Rohwedder, sondern Leute wie Horst Köhler und der SPD-Finanzexperte Tilo Sarrazin, mit ihren Vorbereitungen zur schnellen D-Mark-Einführung, sind für mich die eigentlichen Helfer des Sterbens der DDR-Industrie. Andererseits gab es dazu vielleicht tatsächlich keine Alternative. Denn die Ostdeutschen wollten reisen und Bananen essen. Andernfalls wären aber schließlich alle ‚rübergemacht‘.“
Der Freund grinste. „Für mich sieht es unzweifelhaft wie ‚Sterbehilfe‘ aus, vor allem für unser Gesundheits- und Sozialsystem. Vielleicht am Ende sogar für das bestehende westdeutsche.“
Wauer sog scharf die kühle Herbstluft ein und nahm einen weiteren Schluck, ehe er antwortete: „Das ist wieder eine deiner pessimistischen Interpretationen. Ist übrigens das erste Mal, dass ich dich unser DDR-Gesundheitssystem loben höre. Ich kann nur sagen, dass ich die neuen Freiheiten wunderbar finde und mich noch deutlich und sehr ungern an meine Albträume in der DDR-Zeit erinnere. - Aber mir wird kalt, wir sollten jetzt lieber reingehen.“
„Ich lobe es nicht, auch wenn das westdeutsche gänzlich anders ist und ich Mühe habe, mich da zu assimilieren. Es ist einfach schrecklich, wie wir jetzt von Beratern und Vertretern der internationalen Pharma-, Versicherungs- und Gesundheitsindustrie förmlich überrannt werden. Und es ist beängstigend zu sehen, wie die das Heft in die Hand nehmen. Und sollte diese Tendenz zunehmen, wird es in Deutschland bald so werden wie in den USA. Dann können wir uns alle auf etwas gefasst machen.“
5.
Martin Wauer war dem Rat seines Freundes Thomas Deutscher gefolgt und hatte im Anfang 1991 ein Planungsbüro für Hoch- und Tiefbauarbeiten gegründet. Dem waren einige besondere Studien und Beratungen mit westdeutschen Fachleuten vorausgegangen. Denn der ostdeutsche Bauingenieur war sich keineswegs sicher, ob er wirklich die Fähigkeiten und Fertigkeiten besaß, die zur erfolgreichen Führung eines solchen, wenn auch kleinen Unternehmens, erforderlich waren.
Deutscher hatte seinerseits mit der Idee gerungen, sich als freier Arzt niederzulassen. Dann hatte er sich aber entschieden, sich für die Chefarztstelle der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses zu bewerben, die man nach den dafür neu geltenden Gesetzen ausgeschrieben und ihm auch von verschiedenen Seiten anempfohlen hatte. Er hatte sich, wie zwei weitere Bewerber, die aus dem Westen kamen und etwas jünger waren als er, im Kreistag dazu vorstellen müssen. Wauer hatte bei dieser Gelegenheit unter den Kreisräten einiges für den Freund tun können und dabei die Freuden und Leiden der so genannten Lobbyarbeit auf den „unteren Ebenen“ kennengelernt.
Deutscher war der einzige von den Bewerbern, der die drei Niederlassungen der Kreisklinik in Zittau, Ebersbach und Herrnhut auch von innen kannte. Die Kreisräte, bis auf ein paar wenige Neubürger aus dem Westen fast alles „Oberlausitzer Granitschädel“, wählten schließlich den Einheimischen, was in dieser Umbruchzeit gar nicht so selbstverständlich war, weil man oft lieber auf die überlegenen Ratschläge der massenhaft umherwandernden westdeutschen „Erntehelfer“ hörte. So wurden die unzähligen Unternehmensberater, die die Früchte des Anschlusses miternteten, von einigen nicht wohlmeinenden Ossies betitelt.
Wauer hingegen hatte keine Alternative gehabt. Denn in den Bundestag wollte und konnte er nicht mehr zurück. Seinen Berliner Wahlkreis hatte er durch die Wahlkreisreform sowieso verloren und der Stadtbezirk Weißensee war neuerdings Berlin-Mitte zugeordnet worden. Natürlich hatte es gar keine Zweifel gegeben, dass man diesen Beritt der Nummer Eins der ostdeutschen Sozies zuordnete, zu der Wolfgang Thierse, unter Wauers wirkungsvoller Mithilfe, inzwischen avanciert war.
Ein anderer Genosse der Ost-SPD aus Zittau, der quasi sein Nachfolger im Bundestag geworden war, half dem frischgebackenen Oberlausitzer Neuunternehmer tatkräftig bei seinem kühnen Vorhaben einer Unternehmensgründung. Friedrich Lehmann war über die Sächsische Liste für seinen Oberlausitzer Wahlkreis nominiert und gewählt worden. Wauer war hingegen noch in Berlin registriert gewesen. Als Berliner hatte er sich jedoch nie gefühlt und seine damalige Nominierung und Wahl für die letzte, einzig frei gewählte, Volkskammer der DDR über die Ostberliner Liste hatte er ohnehin mehr oder weniger als Zufall empfunden. Jetzt ging es aber um seine Zukunft und auch um die seines Sohnes. Denn etwas, das sein künftiges Leben sicherte, musste er auf die Beine stellen. Das Übergangsgeld aus dem Bundestag reichte allenfalls ein Jahr.
Lehmann hatte ihm eine Anwaltskanzlei empfohlen, der ein Steuerbüro angeschlossen war. Ein früherer Zittauer, der schon vor dem Mauerbau 1961 als junger Student die "Ostzone" verlassen hatte, war aus Nürnberg in seine Heimatstadt zurückgekehrt und hatte eine Kanzlei eröffnet. Dazu hatte er eine der heruntergekommenen Stadtvillen erworben. Die sofort angeschobenen Renovierungsarbeiten waren zu jener Zeit noch in vollem Gange.
Im Erdgeschoss dieses Hauses hatte Herr Dr. W. seine Büros eingerichtet, in denen er einen jüngeren Kollegen aus Westberlin und einen ehemaligen DDR-Justitiar beschäftigte. Letzterer war auf der Basis der neuen Gesetze in Sachsen als Rechtsanwalt zugelassen worden. Zur Kanzlei gehörte noch ein älterer Herr aus Hamburg, der als Steuerexperte galt und das Pensionsalter eigentlich bereits erreicht hatte. Ferner beschäftigte dieser Anwalt drei weibliche Angestellte, darunter eine Rechtsanwaltsgehilfin mittleren Alters, die er direkt aus Nürnberg mitgebracht hatte und mit der er offensichtlich liiert war, eine auszubildende Steuerfachangestellte sowie eine junge Schreibkraft. Insgesamt umfasste Dr. W.s Kanzlei somit sieben Personen.
Nachdem Wauer mit dem Senioranwalt ein freundliches Kennenlerngespräch geführt hatte, stellte dieser ihm seinen Kollegen Rainer Weizmann vor, der in Berlin-Spandau geboren und aufgewachsen war und all die Probleme zu Zeiten der Berliner Mauer den Hickhack mit den Besuchsregelungen gut kannte. Dieser Mann war Wauer auf Anhieb sympathisch, wohingegen er vermutete, dass er mit dem etwas undurchsichtigen Dr. W. nur schwerlich warm werden würde.
Der Steuerfachmann, ein feiner Herr alter Schule mit schütterem, langem grauem Haupthaar und buschigen schwarzen Brauen, wurde Wauer ebenfalls vorgestellt. Herr Weinrich kam schnell auf die Liste der immensen staatlichen Fördermittel für Firmengründungen und Investitionsgüter zu sprechen, worüber er offensichtlich hervorragend Bescheid wusste, was für Wauers Start in den Wettbewerb der "freien", jedoch auf diese Weise sehr wohl gelenkten, Marktwirtschaft von enormer Wichtigkeit war.
Rechtsanwalt Weizmann war etwa Mitte dreißig und ein hochgewachsener, schlacksiger Typ, der Wauer sehr an den verstorbenen Schauspieler Boy Gobert erinnerte, von dem auch in der DDR einige Filme gelaufen waren. Im Gegensatz zu diesem Mimen hatte Weizmann aber einen extrem kurzen Stoppelhaarschnitt, so dass man nicht heraus bekam, ob er blonde oder graue Haare hatte. Seine dunklen Augen blickten immer ernst, selbst wenn er lachte, was Wauer ziemlich seltsam fand. Der Westberliner empfahl ihm einige Literatur über Firmengründungen in den "neuen" Bundesländern und äußerte die Meinung, dass es ebenfalls hilfreich sei, wenn Wauer, der nunmehrige Oberlausitzer „Jungunternehmer“, das schöne alte deutsche Handelsgesetzbuch mal querlesen würde. Er ging davon aus, dass Wauer, als Abgeordneter beider deutschen Parlamente während diese Umbruchszeit, den Einigungsvertrag aus dem F.F. kannte, was aber gar nicht der Fall war, wie Wauer zugeben musste.
Dabei kam er auf die Idee, alsbald noch einmal den Buchladen am Ernst-Reuter-Platz in Berlin aufzusuchen, um dort die erforderliche Fachliteratur für seinen Planungsbetrieb einzukaufen. Er pendelte zu dieser Zeit ohnehin mehr oder weniger regelmäßig an den Wochenenden zwischen Zittau und Berlin hin und her.
Am 11. November 1989, als sie das erste Mal Westberliner Boden betraten, hatte er zusammen mit Sibylle Schiller in diesem Geschäft die ersten Büchereinkäufe in einem Westladen für ihr „Begrüßungsgeld“ getätigt. Mit den überwältigenden Eindrücken des riesigen Angebotes an Druckerzeugnissen aller Art in diesem „Literaturkaufhaus“ waren sie damals beglückt wie die Kinder mit ihren speziellen Erwerbungen wieder zu ihrer Freiheitsfeier in Jeans Franzosenkneipe am Schloss Charlottenburg zurückgekehrt.
Sibylle würde ihn sicher gern zu einer neuerlichen Einkaufstour dorthin begleiten. Jetzt, in dieser Umbruchzeit, in der aus allen Ost-Läden jegliche Ostware verschwunden war, konnte man in den heimischen Buchhandlungen noch längst nicht das umfängliche Sortiment finden, das er zum Einarbeiten in das neue System benötigte.