Die Reise des Clowns. Harald Zilka

Die Reise des Clowns - Harald Zilka


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veränderte, dies wäre eine traurige Geschichte geworden. Aber genau das passierte. Nach dem Mittagessen sprang der Postbote vom Fahrrad und irrte auf dem Gelände herum, bis er an den Wagen von Direktor Barboni klopfte. Eine Sendung sei abzugeben, aber vom Empfänger zu quittieren. Barboni nahm den Brief ausdruckslos entgegen, weil er davon ausging, dass die Post an ihn adressiert war. Er hatte eine Abneigung gegen Briefe bekommen, weil die meisten nur Mahnungen enthielten. Er wollte keine Post mehr erhalten und keine Briefe mehr öffnen. Die Pyramide seiner Abneigung begann bei den ersten Mahnungen, die er nicht bezahlen konnte und gipfelten in Eildokumenten mit der Aufschrift »Inkasso« oder »Letzte Mahnung«. Als er den Absender sah, zuckte er zusammen. Der Brief trug den Briefkopf von einem Notar, was hochamtlich und erschreckend klang. Er wollte ihn schon wegschieben. Doch dann sah er, dass der Brief an Herrn Francesco Fellini adressiert war. Barboni konnte sich nicht daran erinnern, dass Fellini jemals Post bekommen hatte. Er wies den Postboten den Weg zu Fellinis Wagen. Als der Clown die Tür öffnete, war er ebenso erstaunt wie sein Direktor und nahm den Brief entgegen. Dann schloss er die Tür und setzte er sich aufs Bett, wo er das Kuvert von allen Seiten betrachtete. Notariat Dr. Fudussl stand auf dem Absender und der Vermerk ›Persönlich‹ war mit einem roten Sticker aufgeklebt, der zusätzlich bedrohlich wirkte. Fellini zuckte mit den Schultern und griff zu seinem Brieföffner. Eine scharfe Schneide und am Griff der Kopf einer Schildkröte. Er riss den Umschlag auf. Ein Schreiben befand sich darin, dessen Kopfseite ebenfalls ein Logo und die Adresse von Notar Dr. Fudussl trug.

      »Sehr geehrter Herr Fellini, unsere Kanzlei wurde damit betraut, die Erbschaftsangelenheiten ihres nahen Verwandten Serpacio Grillo abzuwickeln, der vor einiger Zeit in Griechenland verstorben ist. In seinem Testament hat Herr Grillo verfügt, dass sie Alleinerbe seines Vermögens sind. Eine Zirkuskiste mit persönlichen Gegenständen sowie sein Sparbuch bei der Wartberger Gemeindebank mit dem Kontostand von 168.532 Euro zu übernehmen. Wir bitten Sie zu diesem Zwecke in Bälde unsere Kanzlei aufzusuchen, um die Angelegenheit abzuwickeln. Mit hochachtungsvollen Grüßen. Dr. Fudussl«

      Fellini schluckte. Er verstand überhaupt nichts. In Bälde war das allerschlimmste Wort, das er je gelesen hatte. Er las den Brief noch ein zweites Mal und gleich nochmals. Aber da stand es schwarz auf weiß. Sein lieber Onkel Serpacio (man spricht es wie Serpazio aus) war verstorben und hatte ihm sein ganzes Vermögen hinterlassen. Er hatte lange keinen Kontakt mehr mit Serpacio gehabt, der nach einem Zirkusleben die Welt bereiste und sich jahrelang nicht gemeldet hatte. Das Zirkusleben brachte eine gewisse Einsamkeit mit sich. Langzeitfreundschaften oder Familienpflege waren kaum möglich. Es machte ihn sprachlos. Es war schon schlimm genug von Serpacio’s Tod zu erfahren. Und dann diese Summe. Er überlegte, ob es vielleicht 168 Euro waren oder doch 168.000? Aber woher sollte Serpacio so viel Geld gespart haben? Ihm wurde richtig schwindlig und er wusste nicht, wie er die Gefühle verarbeiten sollte, die in ihm hoch kamen. Er stand auf und ging zum Wagen von Direktor Barboni, um ihn den Brief zu zeigen. Die frische Luft tat ihm gut. Als er in den Wagen des Zirkusdirektors trat, der eingezwängt zwischen Kisten und Ordnern auf seinem Stuhl hockte, lächelte der ihm zu. Barboni war ein guter Direktor, hinter dessen Strenge sich ein familiärer Mensch versteckte. Er überflog den Brief. Seine Augen wurden immer größer und das ist keine Floskel. Für einen Augenblick stellte sich Fellini vor, Barboni sei ein Insekt, welches nur mehr aus Augen bestand. Die Barboni-Fliege. Das amüsierte ihn, doch schon trat eine Änderung ein. Barbonis Mund wurde noch größer als seine Augen. Er klappte auf, zeigte eine Reihe von schiefer Zähne und schien durch eine Kiefersperre festzuhängen. Er verwandelte sich in den Barboni-Walfisch. Barboni versuchte, den Mund zu schließen. Dabei quietsche es sogar metallisch. Aber nein - das war nicht sein Kiefer, sondern sein Stuhl, der wieder beachtlich unter seinem Gewicht schwankte. Das war der Nachteil an billigen Chef-Stühlen aus dem Möbelhandel. Sie sahen mächtig aus, schwächelten aber oft am Fußgestell. Bedrohlich schwankten Stuhl und Barboni hin und her, so bedrohlich, dass Fellini Angst hatte, sein Chef würde mit dem ganzen Stuhl hinter dem beladenen Schreibtisch zusammenbrechen. Der Barboni-Mund klappte auf und zu, aber es dauerte einige Zeit, bis er die Sprache wiederfand.

      »Um Gottes Willen, Fellini! Du bist reich!« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da verengten sich seine Augen zu Schlitzen und er betrachtete nochmals die Summe.

      »Aber die Summe! Wie eigenartig … das entspricht genau dem Schuldenstand des Zirkus. Nein, wie eigenartig. Es ist genug Geld, um den Zirkus zu retten! Damit könnten wir die Schulden bezahlen und weiterspielen«, sagte Fellini. Barboni zuckte, als sei ihm bewusst geworden, dass er etwas Verbotenes gesagt hätte.

      »Nein, verzeih mir. Es ist ja nicht das Geld des Zirkus!« Barbonis Augen wurden feucht. Für einen Augenblick schien das Glück über ihn zu kommen, doch dann schüttelte er energisch den Kopf. Er verwischte die Gedanken, seine Gesichtszüge entgleisten im Wechsel der Gefühle. Fellini hatte keine Miene verzogen. Er war noch nicht einmal zu Wort gekommen. Bisher hatte nur Barboni gesprochen, seine eigenen Fragen selbst beantwortet.

      »Auf keinen Fall! Das ist dein Geld! Dein Onkel hat gespart, um dir einen schönen Lebensabend zu ermöglichen und nicht um einen kaputten Zirkus zu erhalten!«

      »Ja, aber es ist auch mein Zirkus und damit auch mein Lebensabend!«, verteidigte Fellini.

      »Was soll ich denn machen? Das Geld nehmen und auf einer Veranda sitzen, in einer Stadt, wo ich niemanden kenne und gar nicht mit dem Leben zurechtkomme? Ich hab gehört, es gibt jetzt nicht mal Telefonzellen, weil alle Handys haben. Aber selbst wenn ich auch eines kaufe, wen rufe ich dann an?«

      Barboni kratze sich das Kinn und nickte. Er hatte selbst Verwandte in der Stadt und war durch seine organisatorische Verantwortung auch schon dort gewesen. Es gehörte zu seinen Aufgaben, Spielgenehmigungen zu erwirken und Verhandlungen mit den Behörden zu führen. Die Vorarbeit einer Zirkusspielzeit bestand vor allem aus Behördenwegen und vielen Stempeln. Man konnte natürlich nicht einfach irgendwohin fahren und einfach einen Zirkus aufstellen, nicht einmal auf einem Acker am Land. Lange bevor die Dachplane des Zeltes (das oft aus mehreren Teilstücken besteht) aufgerollt oder der erste Pflock in den Boden geschlagen wird, war eine ganze Flut an Genehmigungen notwendig. Zirkuszelte ab 75qm² benötigten ein Prüfbuch und eine Ausführungsgenehmigung. Vor der Inbetriebnahme musste der Aufbau von der örtlichen Baubehörde, dem TÜV und der Feuerwehr überprüft werden. Für Außenzelte war diese Überprüfung nicht verpflichtend und kleine Zirkusse verzichteten schon lange darauf, um das Geld zu sparen. Passieren durfte aber nichts. Brach ein Brand aus oder ein anderes Unglück, bei dem vielleicht noch Zuschauer verletzt wurden, stieg jede Versicherung aus und es war Schluss mit der Show. Barboni und sein Zirkus waren von solchen Unglücksfällen verschont geblieben, doch die gab es in der Branche. Erst vor wenigen Jahren war am dritten Spieltag eines Zirkus in Deutschland während der Show die oberste Sitzreihe umgekippt und von dort auf den Boden gestürzt. Plötzlich gab die gesamte Konstruktion nach und hundert Menschen stürzten ab. Obwohl die Baubehörde den Aufbau abgesegnet hatte, ermittelt danach die Kriminalpolizei. Barbonis Zirkus hatte nur einmal Schwierigkeiten gehabt. Sie hatten auf einem Feld einer großen Stadt aufgebaut und zu spät die Genehmigungen beantragt. Weil sich das Gelände auf einem Naturschutzgebiet befand, war außerdem eine Zusatzgenehmigung der Naturschutzbehörde notwendig. Das ganze Durcheinander war entstanden, weil ein Unbekannter eine anonyme Anzeige erstattet hatte. Feinde hatte man viele in diesem Geschäft.

      Barboni hatte viel erlebt und hatte auch keine Berührungsängste mit Städten und Behörden. Bei Fellini war das anders. Der war mindestens zweiundsechzig (das genaue Alter kannte nicht einmal der Zirkusdirektor, es war ein gut gehütetes Mysterium) und er hatte keine Verwandten mehr und wahrscheinlich auch keine Freunde außerhalb des Zirkus.

      »Ja gut«, antwortete Barboni und kratze sich weiter am Kinn, als würde es den Denkprozess beschleunigen.

      »Da hast du schon recht und es rührt mich ganz tief, aber willst du nicht mal drüber nachdenken? Ich meine, es gibt ja auch das Artistenheim in der Schweiz oder andere Möglichkeiten. Der Zirkus ist eine Familie, aber was wäre ich für ein Direktor, wenn ich das Geld nehme und in einem Jahr sind wir wieder pleite? Ich kann dir nicht versprechen, dass es mit einem neuen Anlauf besser wird.«

      Fellini zuckte mit den Schultern. »Ja, aber dann haben wir noch ein Jahr, um ein neues Programm auf die Beine zu stellen. Wenn es schief geht, geben wir auf.


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