Himmel über der Maremma. Ursula Tintelnot
Stuhl. Mit keiner Bewegung, keinem Blick gab sie zu erkennen, dass sie die höhnische Bemerkung ihres Cousins gehört hatte.
»Wollen wir heute noch essen? Ich will mich früh zurückziehen.« Marias Finger klopften ungeduldig auf die Tischplatte. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Als sie aufblickte, fing sie Amalias winziges Lächeln auf, das sofort wieder verschwand. Marias Lippen zuckten.
Theresa setzte sich. Maja kam mit einer Schüssel voll dampfender Spaghetti herein. Es roch nach Pilzen, dem erdigen Duft der Trüffel. Sie zwinkerte Amalia zu und stellte einen Teller Spaghetti Bolognese mit einer extra Portion Parmesan vor sie hin. Amalias Lächeln belohnte sie.
»Du könntest langsam mal anfangen, das zu essen, was wir alle essen.« Frederico stopfte sich eine übervolle Gabel in den Mund.
»Und du, mein Junge, könntest langsam mal anfangen, anständig zu essen.«
Überrascht sah Frederico seine Großmutter an. Sie mischte sich mit verblüffender Taktlosigkeit in alles ein, allerdings höchst selten in Erziehungsangelegenheiten. Frederico lief rot an.
»Hast du etwas von Konstantin gehört?« Maria wandte sich an ihre Tochter und beachtete ihren Enkel nicht weiter.
Theresa fragte sich, ob er wütend oder beschämt war. Ihr jüngster Sohn war so ganz anders als sein Stiefbruder. Sie hatte Konstantin mit in die Ehe gebracht. Maximilian war nicht sein biologischer Vater.
Sie hatte ihren ersten Mann geliebt und geglaubt, nie mehr einen Mann so sehr lieben zu können, mit dieser glühenden Leidenschaft und der Angst, ihn zu verlieren. Thomas hatte einige Kurzgeschichten veröffentlicht, ein paar Theaterstücke geschrieben, aber erst am Anfang seiner Karriere gestanden. Sie war dreiundzwanzig und praktisch mittellos, als er starb.
Theresa war ausgebildete Pferdewirtin. Auf eine Anzeige in einer Pferdezeitschrift hin, bewarb sie sich um die Stelle. Sie schnallte ihren damals vier Jahre alten Sohn in ihrem knallroten Mini an, setzte sich in ihr Auto und fuhr in die Toskana. Das Gut lag in der Nähe Grossetos inmitten der Maremma. Als sie ausstieg, kam ihr ein Mann entgegen. Sicher zwanzig Jahre älter als sie selbst. Gebräunt, attraktiv und selbstsicher.
»Theresa, ich habe dich etwas gefragt.«
»Entschuldige, Mutter.«
Maria wiederholte ihre Frage. Amalia zeigte zum ersten Mal an diesem Abend Interesse. Auch Frederico erwartete die Antwort seiner Mutter.
»Ich denke, er wird am Wochenende hier sein.«
Amalia bemühte sich, ihre Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Sie hatte gelernt, in Fredericos Gegenwart vorsichtig zu sein. Wenn er überhaupt an jemandem hing, so war das sein älterer Bruder. Dass Konstantin seine kleine Cousine liebte, schürte seine Eifersucht.
Maja brachte eine Platte mit Vitello al latte und verschiedenen Gemüsen herein.
»Wo ist Alicia?«
»Sie hat heute frei, Signora.«
Es war ungewöhnlich, dass Maja selbst auftrug.
»Ist keines der Mädchen mehr im Haus?«
»Nein, sie wollten zusammen auf das Fest unten im Dorf gehen. Bei Silvio ist Tanz.«
Amalia lief das Wasser im Mund zusammen. Der in Milch geschmorte Kalbsbraten gehörte zu ihren Lieblingsgerichten.
»Wir nehmen uns selbst, Maja, es ist gut.«
Amalia beobachtete besorgt, wie die Platte die Runde machte, bis sie endlich bei ihr ankam. Ihr Onkel aß und trank unmäßig. Frederico besaß den gesunden Appetit eines Neunzehnjährigen. Maria nahm sich nur eine Scheibe des zarten Fleisches.
Madame Durand verzichtete ganz darauf. »Essen am späten Abend ist ungesund.« Sie aß nur ein wenig von dem Gemüse.
Theresa legte Amalia zwei Bratenscheiben auf den Teller. Eine zarte Berührung ihrer Hand war Amalias Dank. Theresa lächelte ihr zu. »Das magst du doch besonders gerne?«
Amalia nickte. Wie schade, dass sie nicht spricht, dachte Theresa. Nach Auskunft der Ärzte, lag kein körperlicher Schaden vor. Amalia war verstummt, als ihr Vater starb.
Aber die Miene des Kindes drückte so vieles aus, war wunderbar ausdrucksvoll, und neben ihr lag immer ein Tablet, auf dem sie in Windeseile schreiben konnte. Sie sah auf das Display, das Amalia leicht zu ihr drehte. »Wie geht es Luna?«, stand da.
Luna, Theresas mondfarbene Stute, bekam ihr erstes Fohlen, und Amalia fieberte ihm entgegen.
»Wenn es ein Hengst wird, bekommst du ihn«, hatte Theresa ihr versprochen. »Du kannst ihn aufziehen und lernen, wie man mit einem eigenen Pferd umgeht.«
Theresa sagte: »Luna ist nervös und ich auch, vielleicht bleibe ich heute Nacht wieder im Stall.«
»Darf ich mitkommen?«
»Nein, das ist keine gute Idee. Zu viele Menschen würden sie noch mehr beunruhigen.«
Amalia nickte.
»Ich nehme an«, sagte Maximilian und ließ die Gabel sinken. »Raffael wird mit dir wachen?«
»Möglich.«
»Ich erwarte dich nach dem Essen, Amalia.« Maria bat niemals um etwas, sie legte dar, was sie wollte, und erwartete, dass man ihr gehorchte.
Das Mädchen nickte.
Madame Durand sah aus, als habe sie in eine Zitrone gebissen. »Das Kind hat morgen sehr früh eine Reitstunde«, wagte sie einzuwenden.
Maria erhob sich. »Amalia ist kein Kind mehr, das am frühen Abend ins Bett geschickt werden muss. Sie ist fast dreizehn.«
Automatisch sah Theresa auf ihr Handgelenk. Fast zweiundzwanzig Uhr. Sie schob ihren Stuhl zurück. »Es wird auch Zeit für mich«. Sie sah ihren Mann an. »Warte nicht auf mich, Maxim. Es kann spät werden.«
»Ein Fohlen?«
»Ja, Lunas Fohlen.«
Du hast, wie üblich, nicht zugehört, dachte sie.
»Ich hoffe, noch diese Nacht und nicht erst morgen früh?« Ihr Mann hielt ihren Blick einen Moment lang fest.
Noch während sie sich für eine Nachtwache im Stall umzog, hörte sie den Motor des Maserati. Das Cabrio ihres Mannes fuhr vom Hof. Maxim war zu seiner derzeitigen Geliebten unterwegs.