Der verborgene Erbe. Billy Remie
»Außerdem trinkt Ihr das falsche Zeug.« Eagle ging an dem verwunderten Arrav mit einem beinahe überheblichen Schmunzeln vorbei, bückte sich nach einer Schranktür zu Arravs Füßen und riss sie auf. Eine kurze Weile kniete der Prinz vor dem Schrank und räumte einige Töpfe und Pfannen aus, die schon deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen, ehe er genug Platz geschaffen hatte, um sich weit in den Schrank zu lehnen. Ein Knacken und Poltern war zu hören, als der Erbe eine Geheimtür öffnete. Kurz darauf kam er wieder hervor und hielt eine verstaubte Flasche in der Hand, der Korken war noch unversehrt.
»Wein aus Gino, aus dem letzten Jahrhundert«, verkündete Eagle und ging, sein Chaos einfach hinterlassend, zum Tisch mit der Kerze. Auf dem Weg dorthin, nahm er noch einen Becher auf.
Er setzte sich mit dem Gesicht zu Arrav, der ihn nur reglos beobachtet hatte.
Arrav hatte das Gefühl, gehen zu müssen. Gegenüber Adeligen fühlte er sich stets unwohl, weil er das Talent besaß, andere vor den Kopf zu stoßen. Er sagte gerne das, was er dachte, ohne sich darüber Sorgen zu machen, ob es jemanden beleidigte. Unter seines Gleichen möge das durchgehen, denn sollte er jemanden verärgern, artete es höchstens in einer Prügelei aus – und er wusste sich gelegentlich auch zu wehren. Bei Adeligen hingegen konnte schnell mal der eigene Kopf rollen, dabei musste die Beleidigung nicht einmal gewollt gewesen sein, es genügte schon, wenn dem Adeligen der Blick nicht gefiel, mit dem man ihn ansah. Er wollte seinen neuen Herrscher nicht schon jetzt verärgern, also hielt er lieber Abstand, obwohl er gern gewusst hätte, für wen er nun eigentlich kämpfte.
Arrav kippte den Inhalt seines Bechers in den Rachen und wollte gehen, doch gerade als er den Becher abstellen wollte, deutete Eagle auf den freien Stuhl ihm gegenüber.
»Setzt Euch«, bat Eagle, »und trinkt mit mir das gute Zeug.«
Doch Arrav zögerte unschlüssig, überlegte, wie er höfflich ablehnen konnte.
Eagle schien enttäuscht, als er Arravs Weigerung spürte. Er stützte die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf hängen.
Sein melancholischer Blick traf die gekerbte Tischplatte, doch er stach Arrav mitten ins Herz. Plötzlich schien der junge Mann älter zu sein als der jahrhundertalte Wein auf seinem Tisch. Arrav nahm sich ein Herz und ging zu ihm. Überrascht hob Eagle den Blick, als der Stuhl ihm gegenüber leise über den Boden gezogen wurde, und Arrav sich setzte.
Lächelnd griff er zur Flasche und entkorkte sie.
»Arrav, richtig? Cohens Freund.«
Arrav nickte stumm, er schob den Becher über den Tisch.
Eagle nickte schmunzelnd auf Arravs Brust, die unter dem Morgenmantel von der leuchtenden Kerze angestrahlt wurde. »Ihr wisst, dass Ihr einen Morgenmantel für unsere weiblichen Gäste tragt?«
Das bestickte Blumenmuster und die schöne hellgefärbte Seide hatten ihn einen gewissen Aufschluss darauf gegeben, ja.
»Ich habe mich wohl vergriffen.« Arrav lief rot an, er strich sich verlegen sein schulterlanges Haar hinter die Ohren. »Schlaftrunken wie ich war, griff ich nach dem erstbesten Kleidungstück, das ich im Schrank vorfand.«
Eagle nickte nur.
»Ich sehe Euch öfter nächtlich zur Küche gehen«, bemerkte Eagle dann, während er erst Arravs Becher füllte, und dann seinen eigenen. Er stellte die Flasche behutsam ab. »Welche Sorgen treiben Euch umher? Seid Ihr nicht mehr sicher, ob Ihr hier sein solltet?«
Arrav umfasste den Becher und führte ihn zu den Lippen, während er verneinend den Kopf schüttelte. Er kostete einen Schluck und musste den Drang niederringen, genüsslich zu stöhnen. Der Wein war ganz sanft auf seiner Zunge, liebkoste seinen Gaumen und entfaltete in seinem Rachen einen lieblichen Geschmack, der alle Sinne berauschte. Ein gefährlicher Tropfen, zu süß, um seine gewaltige Stärke zu bemerken.
Arrav sah Eagle in die Augen, als er schwor: »Ich stehe mit dem Herzen hinter meiner Entscheidung, für Euch zu kämpfen, mein Prinz.«
Der Kerzenschein zuckte über Eagles trauriges Lächeln. »Wohl eher bleibt Ihr, um für Cohen, Euren Freund und Kommandanten, zu kämpfen.«
»Mag sein, dass meine Entscheidung fiel, weil ich Cohens Urteil vertraute, aber welchen Unterschied macht das? Ich bin hier, mein Schwert wird für Euch Blut vergießen.«
Eagle starrte nachdenklich in seinen Wein und drehte den Becher in seiner Hand. »Die Loyalität meiner Männer, sollte allein mir gehören, stattdessen gehört sie wohl eher meinen Freunden. Und ich kann keinen von ihnen einen Vorwurf daraus machen. Meine Armee ruft jubelnd den Namen des Blutdrachen, und Ihr folgt Cohen. Und nur, weil ich das Blut der Airynns als einziger in mir trage, wollen Cohen und Desiderius für mich kämpfen. Aber wer würde darüber hinaus allein zu mir stehen, nur wegen dem, an das ich glaube? Ohne Desiderius und Cohen, würde wohl kaum eine Seele zu mir stehen.«
Arrav senkte den Blick und dachte eine Weile stumm darüber nach. Das einzige Geräusch in der finsteren Küche war das leise Zischen der einzigen, entflammten Kerze, deren weißes Wachs auf den Tisch tropfte.
Er hegte Mitleid für Eagle, wusste jedoch genau, wo das eigentliche Problem lag. Er fand noch nicht den Mut, offen zu sprechen.
»Verzeiht«, Eagle rang sich ein Lächeln ab, das beinahe entspannt wirkte, »zu dieser Stunde hege ich düstere Gedanken. Aber Ihr habt sicher Eure eigenen.«
»Wer wären wir, würden wir einander nicht zuhören?«, warf Arrav ein. »Dann hätten wir mit unseren Feinden nur allzu viel gemein, glaube ich.«
Es rang Eagle ein leises Lachen ab, doch er schien weiterhin zu müde für dieses Leben.
Der junge Erbe fuhr sich geradezu frustriert durchs Haar, die rotblonden Strähnen schimmerten herrlich im Lichtkegel des Kerzenscheins, und weckten den intimsten Wunsch, selbst einmal die Finger hindurch gleiten zu lassen. Sich gegebenenfalls auch einmal festzukrallen …
Seufzens trank Arrav noch einen Schluck. Als sie das Lager der Flüchtigen damals fanden, und Solran auf Rahffs Befehl hin dem schlafenden Eagle eine Klinge an den Hals hielt, war Arrav bereits fasziniert von der Schönheit des jungen Mannes gewesen. Diese starken Augen, dieses männliche, ausdrucksstarke Gesicht, mit seiner perfekt geraden Nase und seinem vollen Kussmund, und natürlich diese kräftigen Muskeln unter jedem Zoll heller Haut, hatten Arrav in ihren Bann gezogen. So jung, so schön, so unbeugsam, trotz der verzweifelten Lage, in der er damals steckte. So entschlossen, tapfer zu sterben, kein Winseln um Gnade, nur trotziges Wehren, trotz Klinge an seiner sehnigen Kehle. Und diese Haarfarbe! Im Dämmerschein wie Bronze, aber die Sonne gab den Blondanteil preis. Selbst der Bartschatten schimmerte weich in dieser hellrötlichen Farbe, seine langen Wimpern waren an den Spitzen feuerrot und wurden zum Augenlid hin immer heller, sodass sie am Ende fast durchsichtig erschienen. Seine unsagbar eisblaue Augenfarbe, berühmt für seine Familie väterlicherseits, machten das Bild perfekt. Selbst die grünen Schuppen, die beinahe die Hälfte seines Körpers bedeckten, konnten seiner Schönheit nicht abträglich sein. Im Gegenteil, wann immer eine Schuppe unter der Kleidung hervorblitzte, ob im Nacken oder am Handrücken, weckten sie in Arrav den Wunsch, herauszufinden, ob sie sich so hart und trocken anfühlten, wie sie aussahen. Ob Eagle es spürte, wenn man mit den Fingerspitzen oder Fingernägeln über sie streichelte …
»Es ist einsam, plötzlich der rechtmäßige Erbe eines uralten Königreichs zu sein«, gestand Eagle unerwartet offen, während Arrav noch seinen Fantasien nachhing.
»So einsam wohl auch wieder nicht«, Arrav gab sich die allergrößte Mühe, nicht zynisch zu klingen, »gewiss gibt es mehr als genug willige Damen, die sich nach Euch verzehren … oder auch Männer.«
Eagle lächelte Arrav müde an. »Frauen, ja gewiss. Doch nach meiner Gefangenschaft auf dieser Festung sind nicht mehr viele übrig, die ich nicht bereits hatte, und die, die ich kenne, reizen mich nicht mehr. Von interessierten Männern weiß ich nichts.« Er lachte bei letzterem auf.
Arrav scherzte amüsiert: »Dann solltet Ihr es herausfinden, wenn Ihr Euch bereits so einsam fühlt.«
Doch