Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler
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Jens Johler
Ein Essen bei Viktoria
Roman in Erzählungen
published by: epubli GmbH, Berlin,
www.epubli.de
Copyright: © 2012 Jens Johler
ISBN: 978-3-8442-2963-9
Das Buch hat ca 380.000 Zeichen = 220 Normseiten
Titelgestaltung von Cornelia Agel unter Verwendung von Fotos von Petra Bork, Raphael Reischuk und Rainer Sturm, pixelio.de
Nach Amerika!
Es war eine Nichtigkeit, die dazu führte, dass ich mich mit Erasmus überwarf. Es ging um einen Dollar.
Wie ist es möglich, fragte ich mich damals, dass zwei Freunde wie wir, und noch dazu auf einer solchen Reise, einer Amerikareise, sich wegen eines Dollars in die Haare kriegen? Inzwischen glaube ich zu wissen, woran es lag. Ich glaube, es lag daran, dass wir keine Freunde waren. Erasmus hatte das immer behauptet, ich hatte ihm nur nicht geglaubt. Aber hatte er es selbst geglaubt? Und wenn ja, wieso ist er mit mir nach Amerika gefahren? Schon als er mir die Reise vorschlug, hätte ich wissen müssen, dass es schiefgehen würde. Es musste schiefgehen. Wenn man so über die Menschen redet wie Erasmus, dann muss man ihnen aus dem Wege gehen und darf mit ihnen nicht verreisen. Man dürfte nicht einmal mit ihnen essen gehen.
Wir gingen häufig miteinander essen. Es gab niemanden, mit dem ich das so gern tat wie mit Erasmus. Nicht, weil wir beide Gourmets wären, ich bin kein Gourmet. Ich esse, was auf den Tisch kommt. Es gibt zwar Speisen, die ich aus irgendeinem Grunde nicht mag, aber die kommen auch nicht auf den Tisch, weil ich sie nicht bestelle. Austern, Schnecken, Kutteln oder Hirn bestelle ich nicht, so sehr auch andere davon schwärmen mögen. Auch zu Kaviar habe ich nie einen Zugang finden können. Ich weiß nicht, was Erasmus von Kaviar hält, ich habe ihn nie gefragt, aber ein Gourmet ist er auch nicht. Ihm schmeckt nämlich alles. Was für ein Vergnügen, mit ihm zu essen! Sein immer guter Appetit steckt einen an, er futtert drauflos wie ein Weltmeister und strahlt dabei eine Lebensfreude aus, um die man ihn beneidet. Er plaudert und lacht und freut sich, so dass es eine wahre Lust ist, ihm zuzuschauen und mitzumachen, selbst wenn man gerade mittendrin ist in der schönsten Schlankheitskur. Er ist ein hinreißender, ein mitreißender Esser. Und dabei ist er ganz und gar nicht dick! Kein Falstaff, kein Hitchcock, kein Orson Welles. Einsachtzig groß, athletischer Oberkörper, schmale Hüften, wenig Fett –, nicht einmal um die Taille, wo es für Männer unseres Alters doch eigentlich Vorschrift ist. Erasmus ist ein wenig jünger als ich, wirkt aber älter. Das liegt daran, dass er mehr arbeitet und dazu neigt, den Menschen Ratschläge zu geben, und zwar in Form von Theorien, obwohl er, wie er sagt, nicht daran glaubt, dass dadurch irgend jemand zur Vernunft zu bringen wäre. Nein, sagte er auch an dem Abend, an dem wir unsere Reise nach Amerika beschlossen, er mache sich nichts vor. Er wisse, wie die Menschen sind. Sie seien weder klug noch vernünftig, weder einsichtig noch beherrscht, sondern gingen chronisch in die Irre. Sie täten alles, um den Abgrund, in den sie früher oder später alle miteinander hineinspringen würden, so groß und tief und weit zu machen, dass sie auch wirklich alle hineinpassten, alle sechs Milliarden. Die Menschen hätten nichts als Dummheiten im Kopf, und nichtmal danach würden sie sich richten, sie richteten sich überhaupt nicht nach dem Kopf, deswegen sei es vollkommen zwecklos, ihnen Ratschläge zu geben. Im übrigen wisse er selbst nicht, wo es langgehe, aber darauf komme es auch gar nicht an. Kein Wissen dieser Welt werde die Menschen zur Vernunft bringen, weder zur Vernunft noch zur Tugend. Überhaupt nichts könne sie dazu bringen. Die Menschen seien falsch codiert.
Darüber musste ich lachen. Ich hatte eine Schwäche für die kategorische Art, in der Erasmus den Untergang der Menschheit prophezeite. Wahrscheinlich war ich seiner Ansicht, nur hätte ich es nie gewagt, das auszusprechen, ohne nicht doch noch ein wenig Hoffnung zu verbreiten. Umso komischer aber war es in meinen Augen, dass Erasmus seine Hoffnungslosigkeit so kategorisch verkünden und es sich dabei auch noch schmecken lassen konnte. Nur fragt es sich, ob es vernünftig ist, mit einem Menschen, der so denkt, fünf Wochen zu verreisen, besonders wenn man selbst so denkt. Da hilft auch nicht die sogenannte Metadiskussion.
Die Metadiskussion ist ohnehin ein ausgemachter Schwindel. Man denkt, man habe das Ei des Kolumbus gefunden, und in Wirklichkeit ist es ein Windei, eine Scheinlösung. Das einzig Gute an der Metadiskussion ist, dass sie Spaß macht. Ja, das macht sie. Sie nennt das Elend beim Namen und lässt einem die Illusion, man stünde darüber. Man unterhält sich über die Misere und glaubt, weil man sich noch darüber unterhalten kann, sei man mit einem Bein schon draußen. Man sagt, die Menschen seien falsch codiert, es gebe keine Freundschaft, die besten Freunde seien oft schlimmsten Feinde undsoweiter, und dabei lässt man es sich schmecken und denkt nicht daran, aufzustehen und seiner Wege zu gehen, was man doch eigentlich tun müsste. Man verständigt sich darüber, dass man sich nicht verständigen kann, und denkt, man habe sich verstanden.
In einer solchen Stimmung, bei einem solchen Essen haben wir – das ist jetzt ein paar Jahre her – die Reise nach Amerika beschlossen, einig darüber, dass es keine Freundschaft gebe, einig darüber, dass der Mensch ein Ungeheuer sei, einig darüber, dass wir in die Staaten wollten. Nach Amerika!
Mit Erasmus zu reisen ist ein ähnliches Vergnügen, wie mit ihm zu essen. Mit demselben Appetit wie hier die Speisen verschlingt er dort die Sehenswürdigkeiten. Selbst mich riss er mit. Ich bin im Grunde nicht besonders neugierig. Wenn ich auf etwas Neues stoße, weiß ich meist nicht wohin damit. Es erschlägt mich. Ich weiß nicht, warum ich, wenn ich in New York bin, alle Sehenswürdigkeiten anstarren soll, das Empire State Building und das Guggenheim Museum, die Bronx und Brooklyn, Lower Eastside und Greenwich Village. Ich laufe mit blöden Augen durch die Gegend und sage aha, das ist dies, und aha, das ist das. Vor meinem Blick wird alles grau, selbst die Eichhörnchen im Central Park. Ich könnte die ganze Zeit im Park auf einer Bank sitzen. Der Schwarze im braunen Anzug, der sich neben mich setzt und fragt, ob ich die New York Times schon ausgelesen habe, ist mir näher als das ganze Empire State Building. Aber das ist nur Bequemlichkeit, in diesem Punkte gebe ich Erasmus recht. Man muss sich schon bewegen, wenn man was erleben will. Man kann sich nicht auf eine Bank setzen und darauf warten, dass das Leben zu einem kommt. Erasmus würde es keine fünf Minuten auf dieser Bank aushalten, er wüsste gar nicht, was er da sollte. Und den Schwarzen würde er für einen Straßenräuber halten, das ist sicher.
Wir waren nämlich nicht in der Bronx, und natürlich auch nicht in Harlem. Ich wollte hin, Erasmus war dagegen. Da hätten wir nichts zu suchen, sagte er. Es würde ihn zwar interessieren, wie ihn alles interessiere, aber sein Leben setze er dafür nicht aufs Spiel. Vor Harlem habe man ihn gewarnt. Die Schwarzen in Harlem warteten nur darauf, dass die Touristen zu ihnen kämen, um ihr Elend anzugaffen. Auf allen Straßen und in allen Hauseingängen lungerten sie herum und wetzten ihre Messer, um sie dem Touristen in den Rücken zu stoßen. Das sei ein einseitiges Vergnügen, sagte Erasmus, deswegen gehe er nicht hin. Nach Brooklyn ja, nach Harlem nicht. Lieber nochmal ins Guggenheim Museum, moderne Kunst sei ungefährlicher.
Ich weiß nicht, warum ich so versessen darauf war, nach Harlem zu gehen. Mit Engels- oder, wie Erasmus fand, mit Teufelszungen redete ich auf ihn ein. Ich würde ihn beschützen, sagte ich. Ich hätte Vertrauen zu den Schwarzen und sie zu mir. Mir würden sie nichts tun, mir würden sie ansehen, dass ich ihr Freund sei. Meine Freunde wären auch ihre Freunde. Kein Schwarzer würde ihm das Messer in den Rücken stoßen, solange ich noch bei ihm wäre. Im übrigen könne ich Karate, schwarzer Gürtel, zehnter Dan. Es half nichts. Erasmus war nicht nach Harlem zu bewegen, weder mit Engels- noch mit Teufelszungen. Statt dessen Freiheitsstatue, die gerade renoviert wurde, so dass wir nicht hinaufkonnten. Ich habe von alledem nicht viel behalten. Was mir geblieben ist, sind die Eichhörnchen im Central Park und der Schwarze mit der New York Times. Der Blick vom Empire State Building ist mir genausowenig zum Erlebnis geworden wie das Schlangestehen vor der Picasso-Ausstellung. Ganz schwach erinnere ich mich noch an Brooklyn. Es gab dort einen guten Cappucino. Aber Harlem hätte ich spannender gefunden.
Das sei übrigens, sagte Erasmus in einer Metadiskussion, nur eine Provokation gewesen. Ich hätte gewusst, dass er so vernünftig sein würde, Harlem zu meiden, und daher hätte ich den Mutigen gespielt und so getan, als hätte ich keine Angst. Auch ich hätte Angst vor Harlem und