Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler

Ein Essen bei Viktoria - Jens Johler


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höchstwahrscheinlich auch nicht ihr Lover war. Ich hatte mich blamiert.

      Wir bogen in den Strand ein und kauften im Adelphi Karten für das Musical Me and My Girl. Nur noch zwei Stunden, dann würden Viktoria und ich im Theater sitzen, und wenn Andrea nicht noch unvermutet dort auftauchte, dann war der Tag gerettet.

      Im Covent Garden, beim Cappucino, erzählte ich Viktoria von dem Eilbrief. Ich hatte es eigentlich nicht verraten wollen, aber die Begegnung mit Andrea hatte mich weich gemacht, obwohl es nicht Andrea gewesen war. Viktoria konnte mit der Geschichte wenig anfangen. Sie ließ sich den Text des Eilbriefes dreimal wiederholen, schüttelte verständnislos den Kopf und sagte schließlich: »Wieso glaubst du, dass sie einen Lover hat?«

      »Was denn sonst?« sagte ich.

      »Keine Ahnung.«

      »Und der Brief?«

      »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich finde ihn kryptisch.«

      Kryptisch! Das war es! Der Brief war kryptisch! »Warum ich Dich bei Deinem Londonaufenthalt nicht sehen will, wirst du sicherlich erraten können.« Kryptisch. Viktorias Fähigkeit, zur rechten Zeit das rechte Wort zu finden, war meine Rettung.

      Das Wort befreite mich von dem Verdacht, dass es die Abfuhr gewesen war, die mich geärgert hatte, und der Brief bloß Nebensache. Nun aber, wo Viktoria das erlösende Wort gefunden hatte, war dieser Verdacht mit einem Mal verflogen. Der Brief war kryptisch, und das Kryptische daran war ärgerlich. Einen neuen Lover haben, ist eine Sache, einen kryptischen Eilbrief schreiben, eine andere.

      Das Wort erleichterte mich so, dass ich nicht einmal mehr darauf bestand, mit dem Taxi ins Hotel zu fahren. Auf Winfrieds Wunsch fuhren wir mit der berühmten Londoner tube. Das brachte noch einmal das Risiko mit sich, Andrea und ihrem Lover zu begegnen, aber diesmal ging alles gut.

      Der nächste Tag war so gut wie verplant. Nachmittags das Interview, abends nochmal Theater, morgens meinen Rückflug buchen. Ich hatte ja immer noch das Ticket für die ganze Woche, von Freitag bis Donnerstag, aber was sollte ich noch hier, wenn Viktoria, Max und Winfried am Sonntag wieder abgeflogen waren? Mich vor Andrea verstecken? Das konnte ich in Berlin besser.

      Viktoria und Winfried wollten vormittags Bahnhöfe besichtigen, Charing Cross, St.Pancrass, Viktoria Station und Paddington. Max wollte unbedingt auch noch ins London Dungeon, ein Wachsfigurenhorrorkabinett. Viktoria war davon nicht angetan, Winfried auch nicht, aber Max setzte es durch.

      Ich fuhr allein zur Shaftesbury Avenue und kaufte im Lyric Theatre eine Theaterkarte. Dann ging ich zur Regent Street, um den Flug zu buchen. Unterwegs, am Picadilly Circus, aß ich ein »Shawarma«, eine Art indisches Kebab. Das Leckere daran war die scharfe Currysauce, und das Besondere die Tatsache, dass ich vor einem halben Jahr schon einmal hier gestanden hatte, mit Andrea. Sie war zum ersten Mal in London und fand alles ganz toll, den Picadilly Circus, die Coca-Cola-Reklame, die Erosstatue, das Shawarma und die Idee, hier in den Ferien einen Sprachkurs zu machen, mit bed and breakfast. Ob ich sie dann besuchen kommen würde?

      Im Büro der British Airways war es ziemlich voll. Man musste seinen Namen auf eine Liste setzen lassen und warten, bis man aufgerufen wurde. Ich setzte mich hin und blätterte in einem Flugplan herum. Es war sehr interessant zu sehen, wohin man mit British Airways fliegen konnte. Nach New York, zum Beispiel, oder nach Colombo, Sidney oder Rio de Janeiro, und noch an eine Vielzahl anderer Orte, in denen Menschen lebten und sich irgendwie zu Hause fühlten. Sogar nach Inverness. Merkwürdigerweise landete ich immer wieder bei Inverness. Der Name erinnerte mich an irgendetwas, ich wusste nur nicht mehr an was. Inverness. Liegt irgendwo in Schottland, dachte ich, eine Menge Schafe, Whisky, Nordseeöl, sonst nichts. Und dennoch hatte ich mit einem Male die größte Lust, nach Inverness zu fliegen. Warum nicht Inverness, sagte ich zu mir, was spricht dagegen? Inverness – das klingt. Vielleicht findest du da dein Glück. Einen Ort, von dem du ausgehen und an den du wieder zurückkehren kannst. Warum sollte Inverness nicht dieser Ort sein? Es ist vielleicht verrückt, nach Inverness zu fliegen, aber so ganz verrückt kann es nicht sein, sonst würden British Airways keine Linienflüge dorthin anbieten. Inverness ist meine Rettung, dachte ich und schaute mich erschrocken um, weil ich nicht wusste, ob ich es laut oder leise gedacht hatte: Du gehst jetzt, wenn du aufgerufen wirst, an desk number soundsoviel und sagst, ich möchte einen Flug nach Inverness, und wenn der British Airways-Angestellte dich fragt, ob du es auch wirklich ernst meinst, sagst du ja. So fest war ich entschlossen.

      Als mein Name aufgerufen wurde, ging ich zum Schalter mit der Nummer vierzehn, schaute dem Angestellten fest in die Augen und sagte, ich wolle einen Flug nach Berlin.

      So bin ich, das ist es, was mich von Andrea unterscheidet. Ich habe keinen Mut. Ich weiß, obwohl ich es nicht kenne, dass Inverness meine Rettung ist, und gehe, nur weil ich Angst vor dem Neuen habe, zurück nach Berlin.

      Das Interview mit Mrs Arnold, der Witwe des jüdischen Schwänkeschreibers Franz Arnold, lief glatt. Die alte Dame wusste über ihren Mann nicht mehr, als Viktoria und ich schon vorher gewusst hatten, und das war herzlich wenig, aber sie sagte es mit ihrer eigenen Stimme und mit ihren eigenen Worten, und damit hatten wir die »Originaltöne«, auf die es ja beim Rundfunk ankommt, im Kasten. Im übrigen war Mrs Arnold reizend. Sie hatte Tee gemacht und Schwarzwälderkirschtorte besorgt. Es war eine tiefgefrorene Torte, sie war noch nicht ganz aufgetaut, und Viktoria sagte: »Oh, Halbgefrorenes, wie lecker!«

      Das Theaterstück – »Fool for Love« von Sam Shepard – war grauenvoll. Es handelte von zwei jungen Menschen, die aus irgendeinem Grunde weder zusammensein noch auseinandergehen konnten. Unentwegt schlugen sie mit dem Kopf oder den Fäusten gegen die Wand, stürzten aus dem Zimmer, kamen zurück, stürzten wieder hinaus und kamen wieder zurück, um noch einmal mit dem Kopf oder den Fäusten gegen die Wand zu hämmern. Ich nahm mir fest vor, in der Pause zu gehen, aber als der Vorhang fiel und das Licht anging, stellte sich heraus, dass es keine Pause gab, sondern Schluss war.

      Nach der Aufführung war ich mit Winfried verabredet, aber er war noch nicht da. Also machte ich eine Runde durch Soho, das gleich um die Ecke lag. Ich kam an einer Menge Sexbars und Peepshows vorbei und wäre gern hineingegangen, aber ich war zu feige. Stell dir vor, sagte ich mir, du kommst gerade aus der Peepshow und triffst Winfried, wie peinlich. Oder du gehst hinein und triffst ihn da drinnen. Noch peinlicher.

      Als ich zum Lyric Theatre zurückkam, war Winfried da. Er trug einen Jeansanzug, und seine krausen Haare standen wild vom Kopf ab. Er hatte viel zu lange Beine für seinen kurzen, mächtigen Oberkörper und wirkte wie ein Zwerg auf Stelzen. Sein rundes Gesicht zeigte wie immer ein Lächeln, das zugleich mild und überheblich wirkte. Er kam gerade aus dem Barbican Centre, wo es ein Konzert gegeben hatte.

      »Wie war das Konzert?« fragte ich.

      »Wie war das Theater?« fragte er.

      Wir gingen ein paar Straßen weiter in die Frith Street zu Ronnie Scott's Club, setzten uns an einen Tisch und bestellten eine Flasche Macon. Vorn, auf der Bühne, spielte die »GB Blues Band«, und es sang ein Schwarzer mit Namen Roots Jackson. Ich wollte Winfried die Harmoniefolge des Blues erklären, aber bevor ich noch richtig damit angefangen hatte, hatte er es schon begriffen.

      Als wir wieder im Hotel waren, wollte Winfried unbedingt noch einen Drink. Die Bar war offen. Die Pubs schlossen um elf oder halb zwölf, die Hotelbars um zwei oder drei. Winfried nahm wieder Weißwein, ich einen doppelten Whisky. Inmitten eines englischen, irischen und schottischen Stimmengewirrs kam unser Gespräch wie zufällig auf die Liebe. Winfried vertrat genau die Ansichten, die ich vor zwanzig Jahren vertreten hatte. Man müsse das Geistige mit dem Körperlichen vereinen, sagte er, die Mathematik und die Philosophie mit der Frau, die Musik und die Literatur mit der Frau, die Malerei und die Architektur mit der Frau. Ich machte dazu ein skeptisches Gesicht. »Und?« fragte ich, »ist es dir gelungen?«

      »Ich habe es immerhin erlebt«, sagte er.

      »Und warum ist es vorbei?«

      »Woher weißt du, dass es vorbei ist?«

      »Ich sehe es dir an«, sagte ich.

      »Und wenn schon«, sagte er, »das heißt noch lange nicht, dass es unmöglich ist.«

      »Nein«,


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