Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler

Ein Essen bei Viktoria - Jens Johler


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Mitte März war. Viktoria, Max, Winfried und ich nahmen gemeinsam ein Taxi. Ich stieg als erster aus. Ich nahm den Fahrstuhl, schloss die Wohnungstür auf und war wieder allein. Auf dem Teppich vor der Tür lagen Briefe von der Bank, der Versicherung, dem Finanzamt und der Bausparkasse. Das ist dein Leben, die Bausparkasse. Kein Brief von Andrea, kein Lebenszeichen von irgendeinem Menschen, nur Briefe von der Bank und von der Bausparkasse. Das hast du offenbar gewollt. Du bist nicht in Inverness, du bist in Berlin. Dies ist kein cottage, dies ist ein Luxusobdachlosenasyl. Und trotzdem! Trotzdem hörst du morgen auf. Ab morgen hörst du auf, zu rauchen und zu trinken, und fängst an zu arbeiten. Heute noch die drei, vier Zigaretten, und dann Schluss. Gerade noch das bisschen Sherry, und dann Schluss. Du musst nur wollen. Wenn du etwas willst, dann schaffst du es auch, das war bisher immer so, du hast nur noch nie etwas gewollt!

      Und dann überfiel mich der Heißhunger auf Spiegeleier. Ich aß sie, legte mich ins Bett, dämmerte vor mich hin, dachte an Andrea – und auf einmal klingelte das Telefon.

      Es war nicht Andrea, es war Maria.

      »Du bist ja schon wieder da«, sagte sie, »damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.«

      »Warum rufst du dann an?«

      »Ich hatte einfach den Impuls«, sagte sie. »Wie war's denn in London?«

      »Geht so.«

      »Was machst du gerade?«

      »Ich liege im Bett, bin vollkommen besoffen und habe drei Spiegeleier gegessen.«

      »Warum Spiegeleier?«

      »Weil ich aus London komme«, sagte ich und hatte das Gefühl, damit alles erklärt zu haben, Andrea, Viktoria, die Originaltöne und den Kindermann.

      »Ich würde dich gern sehen«, sagte Maria.

      »Schade, dass ich so besoffen bin«, sagte ich. »Wenn ich gewusst hätte, dass du anrufst, hätte ich die Spiegeleier nicht gegessen.«

      »Macht doch nichts.«

      »Doch, ich würde sonst zu dir kommen und dich in die Arme nehmen.«

      »Komm«, sagte Maria, »komm doch einfach. Komm!«

      »Ich kann nicht, ich bin zu besoffen.«

      »Dann komme ich zu dir.«

      »Ist gut«, sagte ich, »aber nicht sofort. Ich muss mich erst duschen und zum Zigarettenautomaten gehen, ich habe keine Zigaretten mehr.«

      »Lass doch das Rauchen«, sagte sie, »das schmeckt doch nicht.«

      »Nein, es schmeckt nicht, und ich habe mir auch vorgenommen, damit aufzuhören. Aber erst morgen. Heute schaffe ich es noch nicht.«

      »Egal«, sagte Maria, »ich komme jetzt.«

      Ich stand auf, ging unter die Dusche, rasierte mich, zog mir was an und ging hinunter zum Automaten. Ich zog eine Schachtel West und dachte an Andrea. Es war ihre Marke. Ich hätte die Schachtel gern wieder umgetauscht und Marlboro genommen, aber dafür war der Automat nicht eingerichtet. Ich ging zurück in meine Wohnung, zündete mir eine West an und schaute aus dem Fenster. Es schneite, und ich dachte, jetzt könnte Maria kommen. Ich ging zum Plattenspieler und überlegte, ob ich das erste Klavierkonzert von Beethoven auflegen sollte oder die letzte Platte von Van Morrison.

      Es klingelte und ich machte die Tür auf. Maria leuchtete mich aus ihren schmalen Augen heraus an. Sie trug einen schwarzen Mantel, der sehr bieder aussah. Ihre dunkelblonden Haare waren so lang und voll, dass ich mich wunderte, woher ihr kleiner Kopf die Kraft hatte, eine solche Last zu tragen. Als sie in die Wohnung kam, sagte sie: »Chopin.«

      »Nein, Beethoven.«

      »Ach ja«, sagte sie, als das Orchester wieder einsetzte, »jetzt erkenne ich es. Erstes Klavierkonzert.«

      Ich nahm ihr den Mantel ab, und wir gingen ins Wohnzimmer. Maria war noch nie bei mir gewesen, und als wir das Zimmer betraten, lachte sie laut auf.

      »Ja«, sagte ich, »so richtet man sich heute ein. Es ist nicht Ikea, sondern eine Klasse teurer, aber im Grunde ist es nur ein besseres Ikea.«

      »Das gefällt mir so an dir«, sagte Maria. »Du richtest dich auf diese Weise ein, aber du nimmst es nicht ernst. Ich kenne Leute, die richten sich so ein und glauben auch noch daran.«

      Ich sah, dass in meiner Wohnung alles voll Chrom und Glas und schwarzgebeizter Esche war, und ich schämte mich nicht dafür, dass ich es nicht ernst nahm, sondern dafür, dass ich keine Wohnung hatte, die ich ernst nahm. Nur ein Obdachlosenasyl aus Chrom und Glas in italienischem Design. Ich bot Maria eine Zigarette an. Sie lehnte ab. »Lass uns so tun, als ob nichts gewesen wäre«, sagte sie.

      »Wieso? Was soll denn gewesen sein?«

      »Du bist immer so verletzend.«

      »Wieso verletzend?«

      »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich sage irgendetwas, und du sagst etwas Verletzendes dazu.«

      »Das ist mir gar nicht bewusst.«

      »Umso schlimmer.«

      »Es liegt vielleicht daran, dass du so enthusiastisch bist«, sagte ich. »Du findest immer alles großartig, die Menschen und die Kunstwerke, die Musik und die Malerei, das Theater und die Literatur. Ich finde das eigentlich auch, aber wenn du davon schwärmst, dann kann ich nicht mehr mit. Ich muss es dann irgendwie zurechtrücken.«

      »Lass uns nicht mehr darüber reden«, sagte sie, »wir machen sonst alles kaputt.«

      »Ist gut«, sagte ich und umarmte sie. Aber ich kam mir lächerlich vor inmitten all des Chroms und des Glases und des italienischen Designs und musste lachen. »Komm«, sagte ich und zog sie ins Schlafzimmer.

      »Meinst du, es geht gut?«

      »Ja«, sagte ich, »es geht gut.«

      Wir legten uns aufs Bett, und es ging gut.

      »Lass uns rausgehen«, sagte Maria nach einer Weile, »ich halte es hier nicht mehr aus.«

      »Wohin?« sagte ich. »Es schneit.«

      »Irgendwohin, wo man einen Calvados trinken kann.«

      »Ich weiß nicht wo«, sagte ich. »Ich lebe jetzt seit sechzehn Jahren in dieser Stadt und weiß noch immer nicht, wo man einen Calvados trinken kann.«

      »Wir finden schon etwas. Lass uns nur erstmal gehen.«

      Wir zogen uns an und gingen hinunter auf die Straße. »Was hast du eigentlich in London gemacht?« fragte Maria.

      »Eine alte Dame interviewt. Eine Mrs Arnold. Für den Funk.«

      »Wie langweilig«, sagte sie.

      Wir gingen in ein Restaurant, in dem Maria schon einmal gewesen war. Es hieß »Josef«. Es war ein modern gestyltes Restaurant in einem alten Fachwerkhaus in Moabit. Wir sagten dem Kellner, dass wir nichts essen wollten, sondern nur Calvados trinken, und der Kellner sagte, wunderbar.

      Zum Dank dafür bestellten wir doch etwas zu essen, eine Suppe mit Fleischklößchen in einem grauweißen Teig. Maria aß die Suppe und die Fleischklößchen und sonderte den Teig aus. Ich aß, wie immer, alles, was auf den Tisch kam. Ich war Maria dankbar dafür, dass sie den Teig nicht lobte, bevor sie ihn stehenließ, wie Andrea es getan hätte, und auch dafür, dass sie tatsächlich Calvados trank. Wenn Andrea sagte, lass uns einen Wein trinken, dann trank sie Mineralwasser, und ich fühlte mich betrogen. Ich war froh, dass ich mit Maria zusammen war und nicht mit Andrea.

      Maria erzählte von einem Artikel, den sie an die Neue Zürcher Zeitung geschickt hatte, und den die Neue Zürcher Zeitung auch tatsächlich abgedruckt hatte, obwohl es die beste deutschsprachige Zeitung war. Ich erzählte noch einmal von Mrs Arnold und von ihrem Mann, dem Schwänkeschreiber.

      »Lass uns aufhören«, sagte Maria, »es ist langweilig. Wir reden miteinander, als würden wir dasselbe machen, nur weil du schreibst, und weil ich schreibe, aber das eine hat mit dem anderen


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