Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani

Die kleine Posaune der Freiheit - Ludwig Witzani


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schon lange genau das vollzogen, von dem der Großteil der Osteuropäer so lange vergeblich träumte.

       Solche Gedanken hatte ich nur ganz vage im Kopf, als ich am Beginn meiner osteuropäischen Reise für ganz kleines Geld einen Flug von Köln nach Helsinki buchte. Es war Sommer, meine Reisekasse war hinreichend gefüllt, und ich verfügte über ein leidliches Hotel in Zentrumsnähe. Morgen würde ich nach Estland fahren - Zeit genug, heute ein wenig durch die Stadt zu schlendern.

       Ich begann meinen Spaziergang durch Helsinki an der Esplanade. Sie ist die Flaniermeile der Stadt, großbürgerlich, was ihre Fassaden betrifft, und einladend, weil ein lang gestreckter Park in ihrer Mitte zum Verweilen einlädt. Als ich die Esplanade erreichte, herrschte Hochbetrieb, denn die Sonne schien, was in Helsinki nicht allzu oft vorkommt. Nachwuchssänger mit ihren improvisierten Kombos gaben Kostproben ihres Repertoires zum Besten, südländische Gaukler vollführten ihre Kunststücke, und Schwarzafrikaner tanzten zum Schlag der Bongotrommel. Auch die Eismänner machten gute Geschäfte, und ein einsamer Polizist schaute zufrieden auf die erbaulichen Bilder öffentlicher Ordnung. .

       Doch hinter der Idylle lauert das Grauen, sagte Adorno, und tatsächlich ließen im Rücken des einsamen Polizisten die Halbwüchsigen auf den Wiesen feixend die Schnapsflaschen kreisen. Gierig öffneten sie die Münder und schüttelten sich den Fusel in den Schlund. Musste man sich Sorgen machen? Nein, antworten die Offiziellen, denn die extrem hohen Alkoholpreise haben in Finnland längst dazu geführt, dass achtzig Prozent der Finnen trocken und nur zwanzig Prozent verarmte Alkoholiker sind – übrigens nach Meinung der Einheimischen genau umgekehrt wie bei der sexuellen Libertinage, die dazu führt, dass zwanzig Prozent der Finnen total befriedigt sind und achtzig Prozent unerlöst in ihre Unterhose schauen müssen.

       Wer an diesem Nachmittag befriedigt oder unerlöst über die Esplanade lief, war für mich auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Reizvoll aber war es, unter all den anwesenden Finnen nach jenen Merkmalen überragender Intelligenz zu suchen, die den Sprösslingen dieses Volkes ihre atemberaubenden Leitungen in den Pisa-Tests ermöglichen. In Mitteleuropa musste man eine Zeitlang nur „Finnland“ sagen, und schon ging ein Ruck der Ehrerbietung durch die Zuhörer, als hätte man ein geheimes Codewort geäußert, das die Antwort zu allen Grundfragen des Bildungssystems, der Müllentsorgung und der Sozialversicherung beinhaltete. Auch das Verhalten der Finnen in der aktuellen Eurokrise sprach für ihre Intelligenz. Sie waren die einzigen gewesen, die den Schalmeiengesängen der Griechen nicht geglaubt hatten und sich ihre Kredite durch die Goldvorräte der griechischen Nationalbank absichern ließen. Umso überraschter war ich, dass an diesem Tag besondere Anzeichen der Intelligenz in den Gesichtern der Finnen nicht zu sehen waren. Immerhin konnte ich erkennen, dass das Gesicht des Finnen auf Eindeutigkeiten hin angelegt ist: Nokia oder Sonera, Elch oder Wolf, Tanne oder Fichte, Samstag oder Sonntag – das waren die binären Entscheidungen, die der Finne auf der Esplanade in seiner Mimik präsentierte. Wenn er lachte, dann lachte er von einem Ohr zum nächsten, wenn er böse war, dann rutschten ihm die Augenbrauen wie ein zu tief herabgezogener Vorhang über die Augen. Soweit ich erkennen konnte, war der Normalfinne in der Regel blond, was niemand überraschen dürfte, litt aber oft unter recht dünnem Haarwuchs. Seine Ohren kamen mir kräftig vor, wie zwei Haltegriffe ragten sie links und rechts vom Schopf aus weit in die Tiefen des Raumes. Das Kinn war kantig, die Nase aber klein, ebenso wie die Augen, die die Umgebung immer ein wenig skeptisch musterten.

       Als ich die Esplanade verließ und über die großen Straßen der Stadt flanierte, war es erstaunlich menschenleer. Am Wetter konnte es nicht liegen - auch, dass nun alle, die sich nicht auf der Esplanade herumtrieben, zuhause saßen und sich weiterbildeten wollte ich nicht glauben. Und wenn ich einmal einen Finnen sah, dann saß er/sie allein auf einer Parkbank am Meer und starrte nach Süden. Meistens handelte es sich dabei um junge Frauen, die sich wie die Tauben auf den Bänken niedergelassen hatten, als erhofften, sie dass sich ein Fenster des Nachbarhauses öffnen möge und ein junger Finne als Täuberich herangeflogen käme.

       Die meisten Menschen aber die mir an diesem Tag begegneten waren Touristen, und ich merkte bald, dass der typische Finnlandtourist ein rüstiger Fünfziger ist - ganz einfach, weil die Preise in diesem Land so gepfeffert sind, dass sie nur ein arrivierter Erwachsener bezahlen kann. Übrigens entstammt auch das Olympiastadion den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als Finnland Austragungsort der Olympischen Spiele gewesen war, Feldmarschall Mannerheim, der Freiheitsheld der finnischen Geschichte, an dessen Reiterstandbild die Touristenbahn vorbeiführt, war ebenfalls in den Fünfziger Jahren gestorben. Die Straßenbilder, die Architektur von Hauptpost und Bahnhof, die Gemächlichkeit des öffentlichen Lebens, all das erinnert an die Fünfziger Jahre, so dass ich mich schon fragte, welche besondere Bewandtnis es mit dieser Zahl in Finnland haben mochte. War es denn kein Zufall, dass mein Low-Budget-Zimmer 50 Euro kostete und dass Finnland ungefähr der 50.größte Staat der Erde ist?

       Mit dieser ungeklärten Frage im Kopf erreichte ich die Felsenkirche von Helsinki, vor deren Eingang der berühmte Monumentalkopf des Komponisten Jean Sibelius die Besucher erwartet. Im Inneren der Felsenkirche lief ein Endlosband mit der Nationalkomposition „Finnlandia“, ein so leicht eingängiger Musikgenuss, dass er in unseren Breitengraden vom strengen Theodor Adorno als „banal“ gescholten wurde. Ich notierte: Adorno ist kein Finnenversteher! Tatsächlich war Genie und Produktivität des großen Sibelius schon dreißig Jahre vor seinem Tod versiegt. Hoffentlich geht das mit Finnland nicht ebenso, dachte ich: Super Pisa-Leistungen am Beginn des 21. Jahrhunderts, dann spätestens ab 2050 totale Ebbe. Wie man hörte, waren die Ergebnisse der PISA-Tests nach der Einführung moderner Unterrichtsmethoden auch schon böse eingebrochen.

       Nicht weit entfernt von Felsenkirche und dem Sibeliuspark befand sich der Hietaniemistrand, eine Uferpassage, an dem ich kaum Badegäste, aber jede Menge öffentlicher Teppichwaschplätze erblickte. Öffentliche Teppichwaschanlagen gehören in Helsinki ebenso zum Straßenbild wie der Paschtune mit Kalaschnikow in Kabul. Dass der Finne sich um derart um die Sauberkeit seiner Teppiche sorgte, erschien mit wie ein Beweis hoher zivilisatorischer Gesittung. Selbstverständlich sollte nach der Teppichreinigung auch niemand mit seinen dreckigen Tretern den Wohnungsboden verunreinigen, weswegen vor den Hauseingängen kunstvolle Vorrichtungen ineinander verkeilter Bürsten installiert waren, mit denen der Finne sein Schuhwerk bereits vor dem Betreten von Treppenhaus und Wohnung säubern konnte. Unter diesen Umständen ist es natürlich kein Wunder, dass der Finne den Hund, einen potentiellen Wohnungs- und Teppichverschmutzer, am liebsten nur im Fernsehen sieht. Der reale Hund in Finnland hat im Unterschied zu Elch und Ren kein gutes Leben, ist er doch darauf angewiesen, in genau umzirkelten Hundearealen sein Häufchen zu verrichten und ansonsten streng an der Leine durch die Gegend geführt zu werden. Hat der Finne außer dem Hund mit dreckigen Pfoten auch noch andere Feinde? Offiziell nicht, wenn man von den Mücken absieht, die an heißen Sommertagen bis in die Innenstädte vordringen und das Wohlbefinden der Einheimischen stören.

       Allerdings gleichen heiße Sommertage in Helsinki einem Gast, der nur sehr selten erscheint und sich schon wieder verabschiedet, wenn er gerade erst gekommen ist Hatte gerade noch eine kräftige Sonne durch eine großzügige Wolkenlücken die Kuppel des Engelsdoms illuminiert, so zogen sich jetzt schon wieder die Wolken über der Stadt zusammen. In dramatischem Tempo verdüsterte sich der Himmel und senkte sich als graue Wolkenfront fast bis auf die Scheitel einsamer Flaneure herab. Ich notiere: Helsinki ist kein Ziel für späte Nachmittage. Die Farben verblassten. jede Weite verschwand, dafür waberte plötzlich eine neblige Nässe durch die Straßen. Eine Ahnung skandinavischer Schwermut stieg in mir hoch, und ich ahnte: wir näherten uns der Stunde des ersten Schnapses.

       In dieser Stimmung erreiche ich das historische Herz der finnischen Hauptstadt, den Senatsplatz von Helsinki. Noch nie habe ich einen so großen Platz mit so wenigen Menschen gesehen. So richtig voll wird er wohl nur in geschichtlichen Hochdruckzeiten gewesen sein - etwa im Jahre 1812, als der russische Zar Alexander I den Finnen ihre nationalen Sonderrechte innerhalb des Zarenreiches bestätigte und Helsinki zur Hauptstadt Finnlands erhob - oder ein Jahrhundert später, als nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches im Jahre 1917 auf dem großen Platz der blutige Bürgerkrieg zwischen Linken und Rechten begann. Heute ist der Senatsplatz umrahmt von sorgfältig restaurierten Fassaden und begrenzt durch die monumentale Treppe, die zum Engelsdom führt. In der Mitte des Platzes, der von oben wie eine große


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