Tara - Die Reise zum Ich. Anjana Gill
jeden Menschen dauerhaft glücklich. Spirituelles Wachstum bedeutet, das Herz zu öffnen. Du musst nichts dafür anschaffen oder lernen. Alles ist bereits in dir vorhanden. Du musst dich nur erinnern; lass es einfach zu!
Es gibt noch viele Dinge auf dieser Erde, wunderbare, für euch manchmal geheimnisvolle Dinge. Sobald du den Schleier vor deinen Augen ein wenig zur Seite schiebst, wirst du sie entdecken. Dein Leben ist eine wunderschöne Reise, auf der es die herrlichsten Dinge zu entdecken gibt. Dein Leben kann prächtig sein!“
Bei diesen Worten Gurudschis erfasste mich ein tiefer Frieden, wie ich ihn zuvor nie gekannt hatte.
„Nimm ein wenig die Geschwindigkeit aus deinem Alltag, Tara, und gönne dir Zeiten der Muße! Halte inne und erfreue dich auch an den einfachen Dingen – den Blumen, dem Lächeln eines Menschen...!
Wie geht es dir, Tara? Du siehst ein wenig müde aus.
Für heute beenden wir unsere kleine Sitzung. Ich glaube es ist gut für dich, nun nach Hause zu gehen und mit einer Zeit der Stille zu beginnen.
Denke in Ruhe über unser erstes Gespräch nach und komme wieder zu Kräften! Meine Gedanken werden dich begleiten. Du kannst wiederkommen, wann immer du möchtest, meine liebe Tara!“
Gurudschi faltete die Hände, legte sie in Brusthöhe aneinander und verneigte sich ein wenig.
Offensichtlich war meine erste Einweisung bei ihm zu Ende. Zuerst war ich ein bisschen traurig, denn eigentlich wollte ich hier gar nicht mehr weg. Lange hatte ich mich nicht mehr so wohl gefühlt wie hier bei Gurudschi. Aber wenigstens hatte ich ja jetzt viel Stoff zum Nachdenken! Ich verabschiedete mich, indem auch ich die Hände faltete und mich leicht verneigte. Noch einmal sah ich in dieses liebevolle Antlitz. Gurudschi lächelte mich an, und dann trat ich auf den Steg hinaus.
Nach einigen Schritten drehte ich mich herum, um Gurudschi zum Abschied zu winken. Aber was sah ich! Am Ende des Stegs lag das Fährboot und nicht das Floß! Ich rieb mir die Augen. Das musste eine Fata Morgana sein. Mir schwirrte der Kopf. Ich konnte die Augen öffnen, schließen und wieder öffnen, aber es blieb dabei: Das Floß war weg!
Ich schaute auf meine Uhr. Das konnte doch gar nicht sein: Es war 16 Uhr. Genau zu dieser Zeit hatte ich die Fähre beziehungsweise das Floß betreten. Wo war die Zeit mit Gurudschi geblieben? Hatte ich das alles nur geträumt? Das konnte nicht sein. Gurudschi, das sonnige Licht, das aufregende Gespräch. Ich wusste, dass ich nicht geträumt hatte. Die ganze Sache war mehr als merkwürdig: Wo war das Floß, und wo war die Zeit? Fragen über Fragen. Zuerst war ich bestürzt; doch dann fielen mir wieder die liebevollen Worte des weisen Inders ein: „Ich bin für dich da. Du kannst wiederkommen, wann immer du es möchtest.“ Als ich an diese Sätze dachte, durchströmte mich erneut dieses friedliche, warme Gefühl. Da wusste ich, ich konnte Gurudschi vertrauen, ich brauchte keine Angst zu haben.
Sofort fühlte ich mich leicht und beschwingt. Gurudschis Worte schwirrten in meinem Kopf herum und ich wollte nur noch eins: nach Hause und in Ruhe über alles nachdenken.
Die nächsten Tage waren sehr anstrengend. In der Firma ging es drunter und drüber, und mir blieb wenig Zeit, über das spannende Gespräch nachzudenken. Die Probleme bei der Kollektionsentwicklung wollten nicht aufhören. Es lief einfach nicht rund. Anna wollte mir helfen, wo immer es möglich war, aber das meiste musste ich schon selbst erledigen. Schließlich trug ich die Verantwortung für den ganzen Laden.
Nach und nach verblassten die Gefühle und Gedanken, und die gewohnte Hektik und die gewohnten Gedankenmuster eroberten ihren alten Stammplatz in meinem Hirn zurück. Zeit zum Nachdenken – ja, wann denn? Innehalten, mich an einfachen Dingen erfreuen. Hört sich ja grundsätzlich alles gut an, aber die Realität sieht anders aus. Ganz anders. Ich kann mir keine Fehler erlauben. Das Geschäftsleben heutzutage gleicht einem Haifischbecken. Du wirst schneller gefressen als du gucken kannst.
Nun ja: „Alltag fressen Seele auf!“ So ist das eben.
Schade eigentlich, dieser Frieden hatte mir gut getan. Für einen Moment fühlte ich mich wieder glücklich, richtig glücklich.
Gurudschi hatte mich gefragt, was mich glücklich mache. Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. Nicht wirklich.
Ich mag meinen Job. Ich mag meine Wohnung. Ich mag meine Freunde. Eigentlich ist mein Leben okay.
Wenn da nicht öfter dieses Gefühl der Leere wäre. Das Gefühl, das kann’s doch nicht gewesen sein, war das etwa schon alles? Dann bin ich immer auf der Suche, auf der Suche nach dem Sinn. Ja, das war’s. Das hatte Gurudschi gemeint. Es tat gut, wieder einen Schritt aus meinem hektischen Leben zu treten und einen Moment innezuhalten. Nun waren schon sieben Tage seit dieser magischen Begegnung vergangen. Ich hatte Sehnsucht. Sehnsucht nach Gurudschis Wärme. Sehnsucht nach seiner Weisheit.
Ich nahm eine Modezeitschrift, um mich abzulenken und meine Gedanken wieder auf die neue Kollektion zu richten. Träumereien konnte ich mir im Moment wirklich nicht leisten. Dazu gab es zurzeit, weiß Gott, genug zu tun. Aber ich konnte machen, was ich wollte, meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Wann war ich glücklich? Als ich mir neulich das tolle Kostüm gekauft hatte, da war ich glücklich. Oder als ich im letzten Urlaub am Strand in diesem urigen Strandrestaurant gegrillt hatte, da war ich auch richtig glücklich. Es waren eigentlich immer nur Momente. Aber immerhin, es gab solche Glücksmomente in meinem Leben, und sie waren wahre Kraftquellen für mich. Aus solchen Momenten zieht man doch die Kraft und Energie für die nächste Zeit.
Ich blätterte weiter in meiner Modezeitschrift, und plötzlich stieß ich auf einen Bericht über Indien und den Satz:
Der höchste Sinn des Lebens besteht
darin, sich als Seele anzuerkennen und
die Vereinigung mit der göttlichen
Quelle anzustreben
(Swami Vivekananda)
Das war ein Zeichen! Das konnte nur ein Zeichen sein!
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, Gurudschi wäre hier im Raum.
Ich musste zu ihm. Unbedingt!
Und zwar sofort!
Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich alles stehen und liegen. Verantwortung hin, Verantwortung her.
Sollte sich mein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein jetzt eben mal hinten anstellen. Ich wollte und musste Gurudschi wiedersehen.
Schnell fuhr ich zum Fluss und lief am Ufer entlang bis zum Fähranleger. Aber dort war nichts. Keine Fähre und erst recht kein Floß. Unendliche Traurigkeit überfiel mich. Wo konnte ich Gurudschi finden. Wo sollte ich nach ihm suchen? Eine Weile starrte ich vor mich hin und überlegte, was ich tun sollte. Da bemerkte ich plötzlich die Fähre, die am Steg anlegte. Wie in Trance, ohne nachzudenken, ging ich den Steg hinab und betrat die Fähre und jauchzte vor Freude auf: Gurudschi war da! Ich befand mich wieder auf dem Floß. Was war das? War das Zauberei?
Aber es war mir in diesem Moment total egal. Hauptsache, mein weiser Inder war wieder da.
Gurudschi lächelte mich voller Liebe an, und dieses Mal fühlte ich, dass der ganze Raum von seinem Frieden und seiner Liebe durchdrungen war.
Ich setzte mich wieder auf das freie gelbe Kissen, mein Kissen, und Gurudschi reichte mir eine Tasse von dem duftenden Ingwertee:
„Schön, dass du da bist, Tara.“
Ich schaute in seine Lotusaugen, und mein Herz hüpfte vor Freude.
„Nun“, begann Gurudschi unser Gespräch, „wir werden gemeinsam eine Reise machen, eine Entdeckungsreise in die verborgensten Ecken und Winkel deines Geistes. Du wirst dich befreien von Meinungen, Vorurteilen und gedanklichen Festlegungen, mit denen du dich im Laufe deines Lebens belastet hast. Der alte Hausrat kommt weg. Wir werden beginnen, als ob wir nichts wüssten.“
„Gurudschi, du hast mich doch gefragt, wann ich richtig glücklich bin. Ich weiß es jetzt. Wenn ich hier