Von GOETZEN bis LIEMBA. Sarah Paulus

Von GOETZEN bis LIEMBA - Sarah Paulus


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stört das überhaupt nicht, sie zeichnet unentwegt. Mannschaft und Passagiere, alles und jeden, der ins Blickfeld der aufmerksamen Beobachterin gerät. Schnell hat ihr dickes Buch die verschiedensten Situationen an Bord gespeichert, meist schwarz-weiße Skizzen in einem comicartigen, zugleich liebevollen Stil. Sie ist von Neugierigen umlagert, die dem Entstehen ihrer Kunst minutiös folgen und dabei ungestüm die von der Zeichnerin benötigte Bewegungsfreiheit einschränken. Während einige der Schaulustigen nach kurzer Zeit ein Porträt erfragen und Audrey anfangen muss, Termine zu vergeben, wissen andere den inneren Zwiespalt zwischen Faszination und Angst nicht zu lösen. Wie Generationen vor ihnen glauben sie noch immer daran, der Seele beraubt zu werden, sobald ihre Abbilder auf dem Papier erscheinen. Magie noire. Modernes Networking obendrein. Das Schiff hat noch nicht einmal abgelegt und Picture Girl ist in aller Munde, mit Porträtierten und Zuschauern auf ganz persönliche Weise verbunden.

      Der arme Frank ist derweil komplett abgemeldet und muss sich mit uns unterhalten. Wir freuen uns über die höchst interessante Abwechslung. Frank hat einige Berufsjahre in der Zentralafrikanischen Republik verbracht, ist ganz offensichtlich afrikaerfahren. Wir stehen auf dem Promenadendeck, abseits der Kunst, und diskutieren angeregt über die große weite Weltpolitik. Frank entpuppt sich schnell als guter Zuhörer, als gewinnend eloquenter und aufmerksamer Gesprächspartner. Seine Sicht auf die Welt ist einnehmend und lässt dem Gegenüber gleichzeitig genügend Freiraum für eigene Ansätze. Nur seine Piratengeschichten machen mich nervös. So ein Quatsch, versuche ich mich zu entspannen, weil nicht sein darf, was sein könnte. »Kongolesen.« Ein Mitarbeiter der französischen Botschaft in Dar es Salaam habe ihn gewarnt, setzt Frank noch einen drauf. Die Liemba könne durchaus ein Ziel sein.

      »All news out of Africa is bad«, lautet der erste Satz in Paul Theroux’ Standardwerk »Dark Star Safari«. Eine Generalverurteilung? Wohl eher nicht, der Autor hat seine Lebensweisheiten nicht am heimischen Schreibtisch gesammelt. Die Liste seiner Reisebücher und Romane ist lang. Sie erzählen seit Jahrzehnten erlebte Geschichten aus aller Herren Länder, unterschiedlichsten Ecken der Welt. In den 1960er Jahren stand der gebürtige Amerikaner mehrere Jahre im Dienst von Peace Corps und unterrichtete am Soche Hill College in Malawi, um später zur Makerere University nach Kampala, Uganda, zu wechseln. Knapp vierzig Jahre danach schildert er in »Dark Star Safari« seine Reise als Backpacker von Kairo nach Kapstadt und beschreibt deprimierende Momente beim Besuch alter Wirkungsstätten tief im schwarzen Afrika.

      Seit Jahrhunderten ist die Mutter aller Kontinente eine überlebensgroße Projektionsfläche für Abenteuer, Fernweh, Mythen und Märchen. Für Angst, Korruption, Gewalt und Ignoranz. Zugleich ein Ort, den man von Ferne erträumt und der heute genauso stark wie Jahrhunderte zuvor Entdecker, Forscher und Tollkühne in seinen Bann zieht. Voll unstillbarer Sehnsucht und abgöttischer Liebe, dessen Anziehungskraft unerschöpflich strahlt, trotz Hitze, Staub und Dreck, Durchfall, Gelbfieber und sonstigen Nebenwirkungen, die von keinem Arzt oder Apotheker der Welt annähernd erschöpfend aufgezählt werden können. Wo vieles so schön fremd und anders ist. Wo so mancher seinen Glauben verloren hat. Andere ihr Herz, den Verstand, das Leben.

      Wer heute nach Afrika reisen will, kann uneingeschränkt wählen. Pauschal oder individuell. Für kleine oder große Geldbeutel. Fly-in. Drive-out. Mit Rollkoffer oder als Backpacker. So unterschiedlich die internationale Weltenbummlerschaft auftreten mag, in Sachen Grundausstattung kann sie oft auf wenige gemeinsame Vielfache reduziert werden, die meist bereits von Weitem erkennbar sind. Es beginnt schon beim Outfit. Hosen, Hemden und Westen müssen dem Betrachter die Abenteuerlust des Trägers förmlich ins Gesicht schreien. Khaki, atmungsaktiv und modisch, ist gut, teuer besser. Dazu die passenden Accessoires, ohne die eine geführte Safari keinesfalls starten darf. Breite Gürtel, schwerste Outdoor-Lederstiefel und dicke Sonnenbrillen sind ein Muss, alles mit möglichst aufdringlichen Adventure-Schriftzügen veredelt. Diese Kaste von Abenteuertyp entfernt sich mit ihren Verkleidungen so weit von der Nützlichkeit, dass der Umwelt oft nichts anderes übrig bleibt, als peinlichst berührt zu Boden zu schauen. Der tiefe Blick in derart geöffnete Provinzseelen lässt auch mir ab und an den Atem stocken. »Ein großer Stuhl macht noch keinen König«, weiß man in Afrika.

      Die platten Äußerlichkeiten unserer Zeit hätten in früheren Jahrhunderten unweigerlich das schnelle Aus von Expeditionen bedeutet. Abenteuer war Abenteuer, ein beinhartes Geschäft, oft genug mit Krankheiten oder Tod bezahlt. Weder gab es ordentliche Straßen noch Fahrpläne, Automobile, Busse oder Bahnen. Klimaanlagen? Fehlanzeige. Von anderen Annehmlichkeiten, die das Dasein der Forscher und Entdecker erleichtert hätten, ganz zu schweigen.

      Bunte und gut sortierte Reiseführer beispielsweise, die selbst entlegenste Dörfer auflisten, um sie hernach in Rubriken wie An- & Abreise, Unterkunft, Essen & Trinken zu tranchieren. Der Reisende erfährt alles rund um Wechselstuben, Apotheken, Hotels, Krankenhäuser, Fahrpläne sowie Internetcafés nebst ausführlichen Hinweisen für allein reisende Frauen. Echte Überraschungsmomente, früher ein wesentlicher Bestandteil von Reisen, verschwinden von der Agenda. Der internationale Weltenbummler gibt sich mit Reiseführer zu erkennen, hält ihn bei jedem noch so kleinen Spaziergang in der Hand, um zeitnah den aktuellen Aufenthaltsort bestimmen zu können. Bedeutete Reisen früher vor allem Entdecken, scheint es heute nur ums Abarbeiten zu gehen. Der schönste Markt der Stadt? Gesehen. Die schönste Bucht in der Gegend? Erledigt. Entspanntes baden? Weiter. Ausgiebiges Meckern, wenn die Orte nicht den Beschreibungen entsprechen. Eine Art zu reisen, die gleich macht, ob mit oder ohne Rollkoffer. Wie beim Outfit wird lediglich in der Wahl der Marke unterschieden. Magst du Lonely Planet oder bist du Iwanowski?

      Ich mag Reiseführer, am liebsten bin ich mit Reise Know-How unterwegs. Da weiß ich, was ich habe. Unmengen Informationen zu allen Fragen der Logistik unterwegs, überaus nützlich für Leute wie mich, die sich nicht pauschal, eher individuell von Punkt zu Punkt bewegen. Auch ich bin Gleiche unter Gleichen, das lässt sich nicht leugnen. Beim Outfit aber hört der Spaß auf. Markenfunktionskleidung kommt mir nicht in die Tüte, das Outfit ist nie teuer, eher abgetragen und farblos. Ich reise mit relativ kleinem Gepäck. Zwei Hemden, zwei Hosen, Socken und ein Sweatshirt für kühle Abende. Drei T-Shirts, Wechselschlüpfer und ein Afrikakleid für gut. Badelatschen und Sandalen. Medikamente für Befindlichkeiten zwischendurch. Was verschwitzt ist, wird gewaschen. Ein Mittel für alles, Duschgel gleich Waschmittel. Schmuck, Schminke und Parfümerie müssen zu Hause bleiben. Nicht auffallen ist mir bedeutend lieber, als überfallen zu werden. Zu wissen, wo ich bin und wohin es geht, ist wichtiger. Rolf hat immer einen Kompass in der Tasche, mittlerweile ein liebgewordener Begleiter, der uns auch schon mal aus den unübersichtlichsten Souks Nordafrikas herausgeführt hat.

      Müsste sich die Welt allein auf den guten alten Kompass verlassen, würde sie ganz schön alt aussehen. Dank Navi, GPS und Google Maps hat die Menschheit viel verlernt. Wenn wir heutzutage unterwegs sind, sollten wir uns hin und wieder die Tatsache ins Gedächtnis rufen, dass wir auf den Spuren der frühen Wegbereiter wandeln, in den Fußstapfen der Entdecker Afrikas, die sich aller Entbehrung zum Trotz unbeirrbar durch den Busch kämpften und uns Nachkommen Reiseberichte und Landkarten hinterließen.

      Die beschwerliche Entdeckung Ostafrikas wie auch anderer Gebiete des westlichen und nördlichen Kontinents begann mit der islamischen Kolonialisierung. »Schon in römischer Zeit unterhielten Königreiche der arabischen Halbinsel eine Reihe von befestigten Niederlassungen von Mogadischu bis Kilwa«, schreibt Egon Flaig in seinem Buch »Weltgeschichte der Sklaverei«. Ausschlaggebend dafür seien zwei Dinge gewesen: das halbjährliche Alternieren der Monsunrichtung zwischen Südwest und Nordost sowie die relativ kurzen Entfernungen zu den arabischen Königreichen, etwa 2700 km von Sansibar nach Aden bzw. 3500 km in den Oman. »Bezogen wurden vor allem zwei Güter: Sklaven und Elfenbein«, so Flaig. Seit dem 7. Jahrhundert sei der Indische Ozean in arabischer Hand gewesen, berichten chinesische Dokumente über den Import ostafrikanischer Sklaven. »Die Küste von Mogadischu über Mombasa bis Kilwa sowie die Inseln Pemba und Sansibar wurden regelrecht kolonisiert.« Insgesamt, so das Fazit, seien zwischen den Jahren 650 und 1920 »weit mehr subsaharische Afrikaner in die Kernländer des Islam verschleppt worden, als über den Atlantik in die europäischen Kolonien, mindestens 17 Mio. gegenüber 11 Mio.«

      Im 17. Jahrhundert machten sich vor allem Portugiesen und Italiener auf den Weg nach Afrika. Sie erforschten und kartografierten Küstenlinien, errichteten


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